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Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Die Unsterblichen: Roman (German Edition)

Titel: Die Unsterblichen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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das intensive gelbe Laub, das noch an den Bäumen hing, die Stadt und weit unten der Fjord, darüber der rötliche Nachmittagshimmel, der ihn immer an Munchs Schrei erinnerte, ein Gedanke, der ihm banal vorkam und schmerzliches Unbehagen erzeugte, manchmal sogar Panik, ohne daß er wußte, warum. Vielleicht war es nur die Vorstellung, daß wieder ein Tag im Meer versank, daß die Sonne das Licht mitnahm, daß er bald dem Alter wieder einen Tag näher gerückt sein würde, ein Lebensabschnitt, von dem er keineswegs so sicher war, ob er ihn würde erleben dürfen.
    In wenigen Wochen wurde Elisabeth, die zwei Jahre älter war als er, sechzig. Ein Jubiläum, das ihn schon ein halbes Jahr beschäftigte, den Saal in Slemdal mieten, Musiker engagieren und dafür sorgen, daß Elisabeth, die jedes Aufhebens um ihre Person verabscheute, trotzdem Einladungen an den großen Freundeskreis verschickt hatte.
    Er richtete sich auf, hoffte, daß der Anfall vorübergehen würde, wie es bei solchen Anfällen üblich war. Aber als sich der Anfall nach einigen Minuten nicht beruhigte, nahm er sich zusammen und bat die Mutter mit dem Kind herein, wobei er gleichzeitig Mildred Låtefoss mit einem vielsagenden Gesichtsausdruck signalisierte, daß sie danach an der Reihe sei. Er stellte fest, daß das Wartezimmer noch voller geworden war.
     
    Sie war groß und blond und erinnerte ihn an seine jüngere Tochter Line. Aber diese Frau war mindestens zehn Jahre älter, was sich bestätigte, als sie ihre Personenkennziffer nannte. Es folgte ein unverbindliches Geplauder über die Freude, ein Kind zu haben und daß das siebenmonatige Mädchen gesund und kräftig sei, er hatte es bereits früher untersucht. Schon in fünf Monaten würde es in die Krabbelgruppe dürfen, und die Mutter konnte wieder arbeiten gehen. An der Anspannung, mit der sie das sagte, merkte er, daß sie es kaum erwarten konnte, daß sie nicht die übliche Bemerkung hören wollte, es sei wohl zu früh. Er merkte, daß sie so schnell wie möglich zurückwollte zu etwas, das sie wegen des Kindes hatte aufgeben müssen. Eine Art Ordnung wiederherstellen, die ihr momentan fehlte, über die sie nicht verfügte, solange das Kind alles bestimmte. Er versuchte, nicht an sein Herz zu denken, während er mit ihr redete. Das einleitende Gespräch konnte er so lange oder kurz gestalten, wie er wollte. Früher oder später kamder Punkt, an dem er fragen mußte, warum der Patient gekommen war. Darauf konnte sie nicht sofort antworten, rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her. Da nahm er das Kind, hielt es mit beiden Händen, immer wieder gerührt, atmete am Hinterkopf den besonderen Geruch des Kleinkindes ein. Er sah, wie erschöpft die Mutter unter dem glatten Make-up wirkte.
    »Ich möchte fragen, ob ich ein Schlafmittel bekommen kann«, sagte sie.
    »Für Sie oder Ihre Tochter?« fragte Thomas Brenner. Jetzt sah er, daß ihre Hände zitterten.
    »Für Eveline«, antwortete sie, während er ihr das Kind vorsichtig zurückgab. O diese netten, altmodischen Namen, dachte er. Dabei wollte niemand von ihnen zurück in die Vergangenheit. Alles sollte neu und modern sein, schlicht und einfach in der Wohnung und im Kopf. Sie taten ihm nur leid. Sowenig Möbel wie möglich. Sowenig verwirrende Gedanken wie möglich. Dafür stilvoll.
    »Eveline schläft nachts kaum noch«, sagte die junge Mutter und war den Tränen nahe. »Ich habe angefangen, ihr Paracetamol zu geben.«
    »Damit sollten Sie aufhören«, sagte Thomas Brenner. »Ich kann Ihnen etwas Besseres verschreiben. Aber muß das wirklich sein?«
    »Nur für kurze Zeit«, sagte die Mutter mit bittenden Augen. »Ich muß schlafen können.«
    Weil du einen Anspruch darauf hast, dachte Thomas Brenner, sagte es aber nicht. Ein deutliches Zeichen für die egoistische Haltung hierzulande. Diese junge Mutter und auch seine eigene Tochter Line, sie glichen diesen Schauspielern und Supermodels, die ihr Geld damit verdienen, der Dummheit des Westens ein Gesicht zu geben.
    Mehr und mehr hatte er in den letzten Jahren festgestellt, daß er seinen eigenen Patienten zunehmend mit Abneigung begegnete, daß er bei dem Charme und der Schönheit, die diese jungen Mütter früher für ihn gehabt hatten, jetzt nur daran dachte, wie dumm und egoistisch sie waren. Schlafmittel für einen Säugling? Damit sie bei ihrem Schönheitsschlaf nicht gestört wurden? Es widerte ihn an.
    Und darin bestand auch eines seiner gegenwärtigen Probleme, dachte er, daß ihm der

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