Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
wohnten schließlich im selben Haus, das Ehepaar Tulla und Kaare Dahl idiotischerweise im oberen Stockwerk und Elisabeth mit ihrer Familie im Erdgeschoß. Mehrmals hatte Thomas vorgeschlagen, die Stockwerke doch zu tauschen, aber das kam nicht in Frage, auch nicht für Elisabeth, die immer auf der Seite ihrer Eltern stand, ohne daß er wußte, ob das wirklich so war oder ob sie von den Verpflichtungen und Zwangsvorstellungen überfordert war. Der frühere Immobilienmakler Kaare Dahl mußte einfach eine Aussicht haben hinüber zu dem Ort, den er für Drøbak hielt, auch wenn es Nesoddtangen war. Dort, am großen Fenster der Bibliothek, würde er bis zu seinem Todestag sitzen.
Und obwohl Tulla, früher Stewardeß bei der SAS und Thomas’ Lieblingsschwiegermutter, wie er gerne scherzte, durchaus offen war für praktische Lösungen und möglicherweise auch das Stockwerk mit der Tochter getauscht hätte, kam es nie soweit. Außerdem hatte auch sie die Aussicht geliebt, solange Fornebu noch der Hauptflughafen Oslos war. Sie hatte ein beinahe sentimentales Verhältnis zu landenden oder startenden Flugzeugen.
Es war, als würden sie ihr Alter nicht wahrhaben wollen, ihre physischen Schwächen und ihre Unselbständigkeit, als würden sie nicht merken, daß sie der Tochter immer mehr aufbürdeten, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, warum Elisabeth ihren Posten bei Telenor gekündigt hatte. Und wenn sie sich Gedanken machten, dann lag für sie der Grund, daß ihre Tochter den Arbeitsplatz aufgegeben hatte eher bei den jämmerlichen Töchtern, die nie erwachsen wurden.
Thomas Brenner hörte seinen Vater an und versuchte, ihn zu beruhigen, dabei war es ihm sehr unangenehm, daß Mildred Låtefoss in diesen intimen Bereich hineingezogen wurde. Aber sie wirkte völlig solidarisch mit ihm, und kaum hatte er den Hörer aufgelegt, nicht ohne zu versichern, daß er am morgigen Tag zur Stelle sein werde, wenn der Krankentransport zu dem verrückt großen Haus im Holmenkollnveien komme, sagte sie:
»Derartige Situationen kenne ich leider. Aber darüber wollen wir jetzt sicher nicht reden?«
»Nein, vielleicht nicht«, sagte Thomas Brenner verlegen. »War das mit der Jahresabschlußfeier alles, was du wolltest?«
Sie lächelte. »Ja. Keine nennenswerten Beschwerden, die deiner Hilfe bedürften. Im Moment.«
Du meine Güte, der Knoten, fiel ihm plötzlich ein. Elisabeths Knoten. Das war es, was im Unterbewußtsein nagte und diesen Tag so trüb machte.
»Wie geht es denn dir , Thomas?« sagte Mildred Låtefoss Minuten später an der Tür seines Sprechzimmers under spürte, daß ihm der Schweiß auf der Stirn stand. »Du siehst schlecht aus.« Sie nahm seine Hände auf eine intime Art, die er in diesem Moment gar nicht ertrug. Wie eine Lehrerin die Hände ihres Schülers nimmt, um mit ihm ein ernstes Wort zu sprechen oder ihn zu trösten.
Und er konnte ihr schließlich nicht erzählen, daß er gerade Herzrhythmusstörungen hatte, das wäre für sie ein willkommener Anlaß, ihn unter ihre Fittiche zu nehmen, und das wollte er absolut nicht. Dabei war ihm klar, daß er im Ernstfall zu ihr gehen würde, und erst heute hatte er daran gedacht, jedenfalls im Unterbewußtsein, daß der Ernstfall da war, daß vielleicht keiner von ihnen mehr gesund war, daß Elisabeth einen Knoten in der Brust hatte und er selbst unter Herzflimmern litt, daß sich bei beiden in diesem Herbst das Alter bemerkbar machte, daß das nur der Anfang war für all die Schmach, die noch kommen würde, die Einschränkung der Möglichkeiten, der langsame Tod, wie er sich sowohl bei den Eltern wie den Schwiegereltern vor seinen Augen abspielte, und dabei waren sie noch keine sechzig, weder Elisabeth noch er.
Wahrscheinlich war der Knoten völlig harmlos. Trotzdem sollte das untersucht werden. Als Arzt würde er sie auf der Stelle zum Spezialisten schicken. Aber sie wollte ihn ja nicht als ihren Arzt. So sind wir nun mal, dachte er. Mit Prinzipien und Zwangsvorstellungen, die uns am Ende direkt in den Tod treiben.
»Ich bin losgeworden, was ich sagen wollte«, sagte Mildred Låtefoss und küßte ihn auf die Wange, nahe beim Mund, dreist und entwaffnend zugleich. Das hatte sie viele Jahre nicht mehr getan, und er errötete verlegen.
»Und du?« sagte er erzürnt und überrumpelt. »Ich habe gar nicht gefragt, wie es dir geht?«
»Ich bin dabei, mich scheiden zu lassen«, sagte sie.»Darüber können wir ein andermal reden, bei einem Glas Wein.«
Aber er
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