Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
bevor er einen Laut gehört hatte, wußte er, daß es sein Vater war.
»Jetzt ist es beschlossen«, sagte er mit einer zittrigen Stimme, die Thomas nicht an ihm kannte. »Man holt sie morgen um zehn.«
Er ertappte sich dabei, sich zuerst die Konsequenzen dieser Nachricht vorzustellen, bevor er dem Vater all sein Mitgefühl zeigte. Konnte er sich morgen freimachen? Hatte er viele Termine? Er schaltete den PC ein, während er sprach. Er mußte bei der Mutter sein an ihrem ersten Tag im Pflegeheim. Es wurde von ihm erwartet, daß er in dieser Situation die Verantwortung übernahm, außerdem war er Arzt.
»Jetzt wird es ernst, mein Junge!« Der Vater schrie es fast in den Hörer.
»Ich weiß, Vater. Ich weiß, wie schlimm das für euch sein muß.«
»Das ist für uns alle schlimm, Thomas.«
Er hörte, wie der Vater versuchte, sich zusammenzunehmen, sicher weil die Mutter im Stuhl direkt neben ihm saß, so wie sie seit inzwischen fünf Jahren in diesem Zimmer gesessen hatten, das Wohnstube und Küche gleichzeitig war, nur unterbrochen vom Pflegedienst, der drei- bis viermal täglich kam und beiden ins Bad half, zur Toilette oder zum Waschen. In der übrigen Zeit trugen sie Windeln, und das Doppelbett war vom Schlafzimmer im oberen Stock nach unten gebracht worden, damit ihnen das Treppensteigen erspart blieb.
Thomas Brenner merkte, daß Mildred unruhig wurde, sie schien zu erraten, worum es ging, und wollte sich verabschieden. Wahrscheinlich hörte sie die laute Stimme des Vaters am Telefon.
Er bat sie mit einer Handbewegung zu bleiben. Es wäre unhöflich gewesen, sie nach dem, was sie erzählt hatte, einfach gehen zu lassen. Dieser Ausnahmezustand war längst kein Ausnahmezustand mehr. In all diesen Jahren hatte sein Vater angerufen und in den Hörer gebrüllt, so als befürchtete er, der Sohn sei genauso schwerhörig, wie erselbst und seine Frau es geworden waren. Er hatte gebrüllt wegen Glühbirnen, die kaputt waren, Schneelawinen, die vom Dach rutschten, dem Pflegedienst, der unfreundlich gewesen war, Windeln, die ausliefen, aber meistens, weil die Mutter gestürzt war. Fast jede Woche war sie einmal gestürzt, aber offensichtlich hatte sie eine besondere Art, zu fallen, denn erst in diesem Jahr hatte sie sich etwas gebrochen, zuerst den Arm, dann das Handgelenk, aber zum Glück nicht den Oberschenkelhals oder einen Knöchel. Im Gegensatz zu ihrem Ehemann machte sie von alldem kaum ein Aufhebens.
Gordon Brenner dagegen, Vater von Thomas und früher einmal Bauunternehmer, machte Aufhebens für zwei, und das bedeutete eine doppelte Dosis an Ängstlichkeit und Erregung, und einige Zeit hatte er die Nase so voll von den beiden, daß er nicht mehr wußte, was er machen sollte. Denn diese Vorfälle wiederholten sich regelmäßig, und Thomas wurde zeitweise jeden zweiten Nachmittag gerufen, um zu helfen, den Fernseher instand zu setzen, eine bessere Antenne für das Radio zu organisieren oder einzukaufen: Büroklammern, Briefmarken, Windeln, Papiertaschentücher, Aftershave, Malstifte, Manschettenknöpfe, den besonders feinen Fischpudding vom Feinkostladen, die Koteletts bei Ström-Larsen oder das gute Walnußbrot in der kleinen Bäckerei, das seine Mutter Bergljot Brenner so liebte. Es war, als würde durch die Regelmäßigkeit sein Mitgefühl abkühlen, seine Empathie verschwinden.
Und es hatte ihn im vergangenen Jahr besonders irritiert, daß die Empathie für seine Töchter stieg, je mehr die Probleme mit den Alten zunahmen.
Für seine Kinder war er bereit, egal was zu tun, wenn damit für sie ein Hauch von Glück verbunden war, dasbeide zu verlieren drohten, falls sie es jemals gehabt hatten. Kein Opfer war zu groß. Aber seinen eigenen Eltern gegenüber zeigte er nicht diese Fürsorge.
Und deshalb schämte er sich, denn bei Elisabeth war es umgekehrt. Sie machte oft den Töchtern gegenüber einen sehr distanzierten Eindruck, gerade wenn die sie am meisten brauchten, aber für ihre Eltern opferte sie sich völlig auf. Keine Forderung war ihr zu groß. Und das Ehepaar Dahl war inzwischen genauso pflegebedürftig geworden wie das Ehepaar Brenner. Manchmal sagte er im Spaß, daß sie wie eine eigene Pflegestation seien, daß sie eigentlich auch seine Eltern ins Dahl-Haus bringen und im Dagaliveien ein Pflegeheim einrichten könnten, aber für diese Art von Spaß hatte Elisabeth keinen Sinn. Jedesmal, wenn er derartige verbale Ausrutscher losließ, wurde sie wütend, und so hatte er damit aufgehört. Sie
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