Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
Angeln auf dem Meer, Bergsteigen –, anschließend hatte er Teile des Inlandeises in Grönland bezwungen und hohe Gipfel in Südamerika bestiegen.
Annika ihrerseits hatte sich nach ihrer Heimkehr für eine Lehrstelle bei einer Silberschmiedin unten am Akerselven beworben und sie bekommen. Aber da verdiente sie nichts. Sie, das heißt Thomas und Elisabeth, mußten dafür bezahlen, daß Annika eine Lehre machen durfte bei dieser unablässig Tee und Rotwein trinkenden Frau, Prototyp einer alternden Kunsthandwerkerin aus den siebziger Jahren, mit polnischen Postern an den Wänden ihres Zimmers im Künstlerkollektiv.
Sie kümmerte sich um Annika, so gut sie konnte, aber Annika hatte keinen Antrieb mehr, was Elisabeth und Thomas schmerzlich feststellten. Besonders nachts dachten sie voller Sorge an die Tochter, wenn sie, statt zu schlafen, in ihrem Kinderzimmer leise Rockmusik spielte und der Rauch ihrer Zigaretten durch den Türspalt drang.
Sie hatte zweifellos einen Knacks bekommen, aber egal wie sehr die Eltern auf ihre behutsame Weise fragten und bohrten, blieb ihnen unverständlich, warum Annika so gar keine Anstalten machte, selbständig zu werden. Daß dann letztlich die Sache unter den Teppich gekehrt wurde, war auch Elisabeths Schuld, weil sie Annikas schwierigeSituation vor den Großeltern vertuschen wollte. Sie hatten ihr Enkelkind immer geliebt und nicht einmal bemerkt, wie übergewichtig es geworden war. Großmutter Tulla jedenfalls steckte der Enkeltochter jedesmal, wenn sie sich im oberen Stockwerk zeigte, selbstgebackene Kokosmakronen in den Mund. Und es waren nicht nur die Süßigkeiten. Elisabeth und Thomas hatten schon bald gemerkt, daß Annika häufig zweimal aß, zuerst mit den Großeltern, danach unten in ihrer Wohnung. Die Alten aßen immer nachmittags, während Elisabeth und Thomas spät aßen, weil Thomas es nie schaffte, vor fünf die Praxis zu schließen. Und diese Mahlzeiten waren meist lang und ausgiebig, waren die schönste Zeit des Tages. Sogar Line, in dieser Zeit als Teenager ständig abgelenkt, nahm gerne an diesen Essen teil.
Ja, dachte Thomas, das war viele Jahre eine unbeschwerte Gemeinsamkeit, wenn auch von Sorgen und schlaflosen Nächten begleitet. Deshalb überraschte es ihn, daß er diesmal nicht automatisch wollte, daß Annika im Restaurant mit dabei war, und ein starkes Schuldgefühl überschattete den ursprünglichen Wunsch.
»Natürlich ist es besonders nett, wenn Annika mitkommt«, sagte er. Aber Elisabeth wußte, daß er es anders meinte, so gut kannte sie seine Stimme.
»Da ist noch etwas anderes, was dich quält«, sagte sie. »Ich höre es.«
»Mir graut einfach vor morgen«, sagte er. Das entsprach der Wahrheit. Ihm graute ungeheuer davor, seine eigene Mutter begleiten zu müssen, vielleicht zum letzten Mal, hinaus aus dem Brenner-Haus, dazu das laute, verzweifelte Schreien des Vaters, Schreien, für das es keinen Trost gab, das die Sache für alle nur schlimmer machen würde, aber so gnadenlos war das Alter, das wußte er mittlerweile, zuoft hatte er solche Verlegungen mitgemacht und Patienten aus allen Stadtteilen begleitet, weil er ein beliebter Hausarzt war. Ein Pflegeheim war und blieb das Vorzimmer zum Tod und deshalb erschreckend, egal wie lange oder kurz man dort sein mußte.
Herrgott, dachte er, es gab Patienten, die über fünfzehn Jahre im Pflegeheim verbrachten. Sie starben nie, am Leben erhalten von blutverdünnenden Mitteln und Herztabletten. Der Körper siechte dahin, aber das Herz schlug trotzdem, und auch wenn die Erinnerung verschwunden war, so verschwanden nicht die Unruhe und die Angst, das rastlose Wandern von Zimmer zu Zimmer in der Hoffnung, Frieden zu finden, ein Zuhause finden, einen Menschen finden, einen Jesus oder einen Gott, der trösten konnte und alles erklären.
Aber es war ja nicht nur diese Sorge, dachte Thomas Brenner. Es war auch die plötzliche Angst um Elisabeth, und vielleicht war es vor allem deshalb, daß er mit ihr allein sein wollte, herausfinden, was sie dachte, ihr vielleicht etwas entlocken über Gesundheitsvorsorge, sie wie nebenbei fragen, ob sie zur Mammographie ginge.
Er könnte auf neue Erkenntnisse verweisen, dafür oder dagegen, fragen, was sie dazu meinte. Ach, wie schwierig war es doch, offen mit seinen Nächsten zu reden. Nie hatten sie Annika gesagt, was sie eigentlich dachten, wie besorgt sie waren. Die Parodie auf unachtsame Eltern, in der Annika und ein anderer Junge aus der Klasse eine Klassenkameradin
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