Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
Mama und Papa. Er beneidete sie deswegen. »Das ist schon in Ordnung«, sagte er. »Dann wird daraus keine Staatsaffäre, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Wie hat er darauf reagiert?«
»Er schrie wie gewöhnlich. Ich glaube, er ist völlig außer sich. Im tiefsten Innern hofft er sicher, daß es nur vorübergehend ist.«
Elisabeth hörte ihm zu. Sie merkte sicher an seiner Stimme, daß da noch etwas war, dachte er. Er erzählte von Mildred Låtefoss, daß sie sich scheiden lassen wolle, erwähnte aber nichts von dem Verdienstorden. Elisabeth schien überrascht. » Die auch?« sagte sie.
»Wer denn noch?«
»Erinnerst du dich nicht an meine ehemalige Kollegin Merete? Sie war für Sibirien zuständig. Sie hat letztes Jahr Mann und Kinder verlassen, und sie ist schon weit über Sechzig.«
»Darüber müssen wir noch reden«, sagte Thomas Brenner und sehnte sich danach, sie zu sehen, wie immer um diese Tageszeit. All die Jahre, abgesehen von der Zeit, in der sie im Ausland arbeitete, war er daran gewöhnt, sie als täglichen Gesprächspartner zu haben. Sie hatte das ganze Leben die Autorität behalten, die darin bestand, zwei Jahre älter zu sein als er, was besonders deutlich war, als sie noch beide aufs Gymnasium gingen.
»Wollen wir essen gehen?« schlug er vor.
»Meinetwegen gerne«, sagte sie. »Wir müssen ohnehin heute abend Lines Auftritt im Tanzinstitut anschauen.«
»Ach ja, das hätte ich beinahe vergessen. Und was ist mit Annika?«
»Ich kann sie fragen.«
Er ertappte sich dabei, zu hoffen, daß sie nicht mitwollte, obwohl sie immer willkommen war. Aber er wußte, daß der Zustand der Unselbständigkeit, in dem sich Annika eingerichtet hatte, seit sie vor nun sieben Jahren das Abitur gemacht hatte, Elisabeth auf die Nerven ging.
Er wußte selber nicht, was er davon halten sollte. Viele seiner Kollegen befanden sich in einer ähnlichen Situation. Die Kinder wurden einfach nicht erwachsen. Sie wohnten noch zu Hause bei ihren Eltern, nachdem sie längst mit Schule und Studium fertig waren, und mußten versorgt werden, weil sie es nicht schafften oder wollten, einen Beruf zu finden. Annika hatte sich, genauso wie ihre jüngere Schwester Line, nach dem Gymnasium nicht entscheiden können, was sie werden wollte.
Zuerst war sie ein Jahr weggegangen, hatte eine weiterbildende Internatsschule besucht. Aber sie war danach noch unentschlossener als vorher, und sowohl Elisabeth wie Thomas hatten den Verdacht, daß sie mit Alkohol und vielleicht auch mit Drogen in Kontakt gekommen war. Sie hatte in diesem Jahr beträchtlich zugenommen, und nachdem sie sich keine eigene Wohnung gesucht hatte, weil das Geld fehlte und sie keinen passenden Ferienjob fand, blieb sie zu Hause wohnen, das Dahl-Haus war nun mal ebenso verrückt groß wie das Brenner-Haus. Und seitdem waren sechs Jahre vergangen.
Es kam vor, daß er versuchte, mit ihr zu reden, vor allem, weil sie ihm leid tat, aber mehr als Tränen brachten diese Gespräche nie, und Annikas Weinen hatte er noch nie ausgehalten, nicht einmal, als sie klein war. Vielleicht hat sie deshalb ein Gewichtsproblem, dachte er, weil er sie beim kleinsten Anlaß immer mit Süßigkeiten vollgestopft hatte.
Sie hatte es nicht geschafft, sich einen Freund zuzulegen. Und dabei war sie in der Schulzeit sehr souverän aufgetreten, war führend in der Clique und eindeutig der Publikumsliebling in einer Schulaufführung. Ihre Parodie auf übervorsichtige Eltern war schon beinahe beleidigend gewesen. Elisabeth und Thomas hatten sich auf peinliche Weise in ihrer grundlosen Ängstlichkeit angesprochen gefühlt.
Auf den stürmischen Applaus hatte sie mit souveräner Selbstsicherheit reagiert. Damals waren sie völlig davon überzeugt gewesen, daß die Tochter ihren Weg machen würde, in der Industrie oder auf der Wirtschaftshochschule, so wie viele ihrer Freunde und Freundinnen. Statt dessen entschied sie sich für diese Internatsschule ganz oben in Nordnorwegen, und Thomas hegte lange denVerdacht, daß das etwas mit Stian zu tun hatte, diesem eigenwilligen Jungen aus dem Ankerveien, für den Annika offensichtlich geschwärmt hatte, ohne daß dieses Interesse von seiner Seite erwidert wurde.
Trotzdem war sie diesem Stian in den hohen Norden gefolgt. Für ihn, der Oslo und das bürgerliche Milieu mit teurer Wohnlage am Holmenkollen hinter sich lassen wollte, war das sicher nicht erfreulich. Stian hatte das Jahr auf den Lofoten dazu genutzt, draußen in der Natur zu leben –
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