Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
belud Deborah ihren Jeep bis unters Dach mit allen möglichen Schuhen und Kleidungsstücken, von denen sie glaubte, sie könne sie brauchen (»Man weiß ja nie, ob das Wetter so bleibt«). Sie brachte Kissen und Decken mit für den Fall, dass wir irgendwo liegen blieben, einen tragbaren Ventilator für den Fall, dass ihr heiß wurde, sowie ihre gesamte Frisier-und Manikürausrüstung aus der Kosmetikschule, Schachteln voller Videobänder, Musik-CDs, Büromaterial und alle Unterlagen, die sie über Henrietta besaß. Wir fuhren stets mit
zwei Autos, denn Deborah traute mir noch nicht so, dass sie in meinem mitgefahren wäre. Ich folgte ihr und sah zu, wie ihre schwarze Autofahrermütze zu ihrer Musik auf und ab wippte. Wenn wir um Kurven bogen oder an einer Ampel stehen blieben, konnte ich sie manchmal laut singen hören: »Born to Be Wild« oder »I Forgot to Be Your Lover«, ihr Lieblingslied von William Bell.
Schließlich ließ Deborah mich auch in ihr Haus. Es war dunkel mit dicht geschlossenen Vorhängen, schwarzen Sofas, gedämpftem Licht und dunkelbraunen, holzvertäfelten Wänden, an denen Schwarzlichtposter mit religiösen Motiven hingen. Wir hielten uns immer in ihrem Arbeitszimmer auf. Dort schlief sie nachts meist auch und nicht im gemeinsamen Schlafzimmer mit Pullum – wie sie mir erzählte, stritten sich die beiden oft, und sie brauchte ihre Ruhe.
Ihr Zimmer war knapp zwei Meter breit. An einer Wand stand ein Doppelbett, und direkt gegenüber befand sich ein kleiner Schreibtisch. Auf dem Tisch lag, begraben unter Bergen von Papier und Schachteln voller Umschläge, Briefe und Rechnungen, die Bibel ihrer Mutter. Die Seiten waren zerknittert, brachen fast vor Altersschwäche und waren von Schimmelflecken übersät. In dem Buch lagen immer noch die Haare ihrer Mutter und ihrer Schwester.
Die Wände von Deborahs Zimmer waren vom Fußboden bis zur Decke mit bunten Fotos von Bären, Pferden, Hunden und Katzen bedeckt, die sie aus Kalendern herausgerissen hatte. Außerdem hing dort fast ein Dutzend leuchtend bunte Filzquadrate, die sie und Davon eigenhändig hergestellt hatten. Eines war gelb und trug in großen Lettern die Aufschrift DANKE JESUS DASS DU MICH LIEBST; auf einem anderen stand ERFÜLLTE PROPHEZEIUNGEN, und daran waren Münzen aus Stanniolpapier befestigt. Ein Regal am Kopfende ihres Bettes war vollgestopft mit Werbevideos: für einen
Whirlpool, ein Wohnmobil, eine Reise nach Disneyland. Fast jeden Abend sagte Deborah: »Du, Davon, wollen wir in Urlaub fahren?« Wenn er dann nickte, fragte sie: »Wohin willst du: Disneyland, ein Spa oder eine Fahrt mit dem Wohnmobil?« Jedes Band hatten sie sich schon viele Male angesehen.
Bei einem meiner Besuche zeigte ich Deborah vor meinem Abschied, wie sie mit einem alten Computer, den jemand ihr ein Jahr zuvor geschenkt hatte, ins Internet gehen konnte, und dann brachte ich ihr bei, wie man Google benutzt. Wenig später nahm sie Ambien – ein starkes Schlafmittel – und saß dann die ganze Nacht benebelt wach, hörte William Bell mit dem Kopfhörer und googelte »Henrietta« oder »HeLa«.
Davon bezeichnete Deborahs Ambien als »Idiotenmedizin«, weil sie unter ihrem Einfluss mitten in der Nacht wie ein Zombie durchs Haus lief. Dabei redete sie sinnloses Zeug und wollte Frühstück machen, indem sie Zerealien mit einem Fleischmesser klein hackte. Wenn Davon bei ihr übernachtete, wachte er häufig mitten in der Nacht auf und sah, wie Deborah, den Kopf auf den Tisch und die Hände auf der Tastatur, vor dem Computer eingeschlafen war. Dann schob er sie einfach vom Stuhl ins Bett und deckte sie zu. War er nicht da, wachte Deborah oft mit dem Gesicht auf dem Schreibtisch auf, umgeben von Papierbergen, die aus ihrem Drucker auf den Fußboden flatterten: wissenschaftliche Artikel, Patentanträge, zufällig ausgewählte Zeitungsartikel und Blognachrichten, darunter viele, die nichts mit ihrer Mutter zu tun hatten, sondern nur die Wörter Henrietta, lacks oder HeLa enthielten.
Gerade von Letzteren gab es erstaunlicherweise viele. Hela ist der Name der Einheimischen für den Staat Sri Lanka; dort verlangen Demonstranten auf Transparenten »Gerechtigkeit für die Hela-Nation«. Ebenso ist es der Name eines nicht mehr existierenden deutschen Traktorenherstellers und eines preisgekrönten Shitzu-Hundes. Den gleichen Namen tragen auch
ein Strandhotel in Polen, eine Werbeagentur in der Schweiz, ein dänisches Schiff, auf dem die Menschen gemeinsam Wodka trinken und
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