Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
Vorwarnung: »Ich geb die Krankenakten raus, wenn ich es will und es für richtig halte.« Sie erklärte mir, sie habe am Abend die Krankenakten ihrer Mutter eingepackt und sei nach Hause gelaufen, weil sie glaubte, ich wolle sie stehlen. Sie sagte: »Ich brauch einfach jemanden, dem ich vertrauen kann, der mit mir redet und mich nich im Dunkeln lässt.« Ich solle ihr versprechen, dass ich ihr nichts verschweigen würde. Ich versprach es.
Zwischen unseren Treffen unterhielten Deborah und ich uns jede Woche stundenlang am Telefon. Ab und zu redete jemand ihr ein, sie dürfe keiner Weißen vertrauen und ihr bloß nicht die Geschichte ihrer Mutter erzählen. Dann rief sie mich voller Panik an und wollte wissen, ob das Hopkins mich dafür bezahlte, dass ich Informationen sammelte, wie die Leute sagten. Bei anderen Gelegenheiten schöpfte sie Verdacht wegen des Geldes, beispielsweise als ein Verlag ihr 300 Dollar für die Genehmigung anbot, Henriettas Foto in einem Lehrbuch der Genetik abzudrucken. Als Deborah 25 000 Dollar forderte und der Verlag ablehnte, rief sie mich an und wollte wissen, wer mir Geld dafür gab, dass ich das Buch schrieb, und wie viel ich ihr davon abgeben würde.
Ich erklärte ihr jedes Mal das Gleiche: Ich hatte das Buch noch gar nicht verkauft, sondern bezahlte meine Recherchen damals mit Studiendarlehen und Kreditkarten. Und ohnehin könne ich ihr für ihre Geschichte kein Geld geben. Stattdessen, so sagte ich, würde ich etwas anderes tun, wenn das Buch jemals erschien: Ich würde einen Stipendienfonds für die Nachkommen von Henrietta Lacks einrichten. Wenn Deborah einen guten Tag hatte, war sie von dieser Idee begeistert. »Bildung is alles«, sagte sie dann. »Wenn ich mehr davon hätte, wär das alles mit meiner Mutter vielleicht nich so schwer gewesen. Deshalb sag ich Davon immer: ›Lern weiter, lern so viel du kannst.‹« An schlechten Tagen jedoch glaubte sie, ich würde sie anlügen, und legte wieder einmal auf.
Solche Augenblicke dauerten nie lange und endeten immer damit, dass ich Deborah ein weiteres Mal versprechen musste, ihr nicht das Geringste zu verschweigen. Irgendwann sagte ich ihr, wenn sie wolle, könne sie mich sogar bei meinen Recherchen begleiten. Darauf erwiderte sie: »Ich will zu diesen Zentren und Colleges und so was gehen. Stellen, wo man lernt. Und ich will die Krankenakte und den Obduktionsbericht von meiner Schwester.«
Von nun an schickte ich ihr stapelweise Informationen, die ich über ihre Mutter fand: Artikel aus Fachzeitschriften, Fotos der Zellen, gelegentlich auch einen Roman, ein Gedicht oder eine Kurzgeschichte, in der HeLa vorkam. In einer der Storys benutzte ein verrückter Wissenschaftler die HeLa-Zellen als biologische Waffe zur Verbreitung der Tollwut; in einer anderen kam eine gelbe Fassadenfarbe vor, die aus HeLa-Zellen bestand und sprechen konnte. Ich schickte Deborah die Ankündigungen für Ausstellungen, in denen Künstler Bilder von Henriettas Zellen auf die Wände projizierten. Eine Künstlerin stellte eine herzförmige Kultur aus, die sie durch Fusion ihrer eigenen Zellen mit HeLa hergestellt hatte. In jedem Paket
an Deborah schickte ich auch einen Brief mit Anmerkungen mit, in denen ich erklärte, was die einzelnen Dinge bedeuteten. Ich machte eindeutig kenntlich, was Fiktion war und was nicht, und warnte sie vor allem, worüber sie sich vielleicht ärgern könnte.
Jedes Mal, wenn Deborah ein Paket erhielt, rief sie mich an und wollte über das, was sie gelesen hatte, sprechen. Ihre panischen Anrufe wurden allmählich immer seltener. Als ihr wenig später klar wurde, dass ich im gleichen Alter war wie ihre Tochter, nannte sie mich plötzlich »Boo« und bestand darauf, dass ich mir ein Handy kaufte, weil sie sich Sorgen machte, wenn ich lange allein auf der Landstraße unterwegs war. Wenn ich mit ihren Brüdern sprach, schrie Deborah sie jedes Mal nur halb im Scherz an: »Nehmt mir bloß nich meine Reporterin weg! Sucht euch selbst eine!«
Als wir uns zu unserer ersten Reise trafen, stieg Deborah im knöchellangen schwarzen Rock, schwarzen Sandalen mit hohen Absätzen, einem schwarzen Shirt und offener schwarzer Strickjacke aus dem Auto. Nachdem wir uns umarmt hatten, sagte sie: »Ich hab meine Reporterklamotten an!« Sie deutete auf meine schwarze Bluse, die schwarze Hose und die schwarzen Schuhe und sagte: »Du trägst immer schwarz, da hab ich gedacht, ich sollte mich auch so anziehen, damit ich zu dir passe.«
Vor jeder Reise
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