Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
doch nicht sehen. Aber stattdessen jammerte sie: »Ach, mein Kleiner! Gott helfe ihm, sie haben ihn mit Fingerabdrücken auf einer Pizzaschachtel erwischt.«
Ihr Sohn Alfred und ein Freund waren auf Raubtour gegangen. Mit vorgehaltener Waffe hatten sie mindestens fünf Spirituosenläden ausgeraubt. Überwachungskameras zeigten, wie
Alfred einen Verkäufer anschrie und eine Flasche Wild Irish Rose über seinem Kopf schwenkte. Er hatte eine Drittelliterflasche Bier, eine Flasche Wild Irish Rose, zwei Packungen Newport-Zigaretten und ungefähr 100 Dollar Bargeld gestohlen. Die Polizei verhaftete ihn vor seinem Haus und stieß ihn in den Wagen, während sein Sohn »Little Alfred« vom Vorgarten aus zusah.
»Ich will immer noch diese Zellen sehen«, sagte Deborah und schluchzte. »Ich lass mich nich davon abhalten, mehr über meine Mutter und meine Schwester zu erfahren.«
32
»Das is alles meine Mutter«
A ls Deborah bereit war, sich zum ersten Mal die Zellen ihrer Mutter anzusehen, konnte Day nicht mitkommen. Viele Male hatte er gesagt, er wolle die Zellen seiner Frau vor seinem Tod unbedingt noch sehen, aber er war 85, musste immer wieder wegen Herz- und Blutdruckproblemen ins Krankenhaus und hatte gerade durch seinen Diabetes ein Bein verloren. Sonny musste arbeiten, und Lawrence sagte, er wolle nicht die Zellen sehen, sondern mit einem Anwalt über eine Klage gegen das Hopkins beraten, die er als »Multi-Milliarden-Dollar-Unternehmen« bezeichnete.
Also verabredete ich mich für den 11. Mai 2001 mit Deborah und Zakariyya an der Jesusstatue vor dem Hopkins zur Besichtigung von Henriettas Zellen. In der Frühe hatte Deborah mich gewarnt: Lawrence sei überzeugt, dass das Hopkins mich bezahle, damit ich Informationen über die Familie sammele. Er hatte sie an diesem Tag bereits mehrmals angerufen und gesagt, er werde kommen und das Material holen, das sie im Zusammenhang mit ihrer Mutter zusammengetragen hatte. Also schloss Deborah alles in ihrem Arbeitszimmer ein, nahm den Schlüssel mit, rief mich an und bat: »Sag ihm nicht, wo du bist, und triff dich nicht ohne mich mit ihm.«
Als ich zu Jesus kam, stand er noch genauso da wie vor 50 Jahren, als Henrietta ihn aufgesucht hatte. Weit mehr als drei Meter hoch ragte die Statue unter einer abgestuften Kuppel empor, die pupillenlosen Marmoraugen geradeaus gerichtet, die Arme ausgebreitet und in einen steinernen Umhang gekleidet. Zu seinen Füßen lagen haufenweise Münzen, verwelkte Gänseblümchen – und zwei Rosen, die eine frisch und dornenbewehrt,
die andere aus Stoff mit Tautropfen aus Kunststoff darauf. Sein Körper war graubraun und schmuddelig, nur der rechte Fuß glänzte in poliertem Weiß von all den Händen, die seit Jahrzehnten an ihm rieben, was Glück bringen sollte.
Deborah und Zakariyya waren noch nicht da, also lehnte ich mich gegen eine Mauer und sah zu, wie ein Arzt in grüner Operationskleidung vor der Statue niederkniete und betete. Andere rieben auf ihrem Weg in die Klinik an dem Zeh, ohne hinzusehen oder ihren Schritt zu verlangsamen. Mehrere Menschen blieben stehen und schrieben Gebete in übergroße Bücher, die neben der Statue auf hölzernen Pulten lagen: »Lieber Vater im Himmel: Wenn es Dein Wille ist, lass mich ein letztes Mal mit Eddie sprechen.« »Bitte hilf, dass meine Söhne ihre Sucht besiegen.« »Ich bitte Dich, meinem Mann und mir Arbeitsplätze zu schenken.« »Herr, ich danke Dir, dass Du mir noch eine Chance gegeben hast.«
Ich ging zu der Statue – meine Absätze hallten auf dem Marmor wider – und legte meine Hand auf den großen Zeh – so nah war ich dem Akt des Betens noch nie gekommen. Plötzlich stand Deborah neben mir und flüsterte: »Ich hoff nur, er hat uns dieses Mal erhört.« Ihre Stimme klang völlig ruhig.
Ich erwiderte, das hoffte ich auch.
Deborah schloss die Augen und begann zu beten. Dann tauchte Zakariyya hinter uns auf und ließ ein tiefes Lachen hören.
»Der kann jetzt auch nicht helfen!«, rief er. Er hatte zugenommen, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, und mit der dicken grauen Wollhose und einem gesteppten blauen Daunenmantel wirkte er noch massiger. Die schwarzen Kunststoffbügel seiner Brille lagen ihm so dicht am Kopf, dass sie tiefe Furchen eingeschnitten hatten, aber ein neues Gestell konnte er sich nicht leisten.
Er blickte mich an und sagte: »Die da, meine Schwester, die is verrückt, dass sie von denen kein Geld für die Zellen will.«
Deborah rollte mit den Augen und
Weitere Kostenlose Bücher