Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
plötzlich losgegangen, und ich hatte Angst.
Ich weiß, mein Leben könnte besser sein, das wär schön«, sagte sie. »Wenn die Leute von den Zellen von meiner Mutter hören, sagen sie immer: ›Mann, ihr könntet doch alle reich sein! Ihr müsst John Hopkin verklagen, ihr müsst dies tun und das tun.‹ Aber ich will das nich.« Sie lachte. »Ehrlich gesagt, ich kann auf die Wissenschaft nich sauer sein, sie hilft doch den Leuten, und ohne sie wäre es Mist. Ich bin’ne wandelnde Apotheke! Über die Wissenschaft kann ich nix Schlechtes sagen, aber ich hätt wirklich gern’ne Krankenversicherung, damit ich nich jeden Monat so viel Geld für Medikamente zahlen muss, die wahrscheinlich mit den Zellen von meiner Mutter gemacht worden sind.«
Als Deborah sich irgendwann im Internet besser zurechtfand, nutzte sie es nicht mehr nur dazu, sich selbst mitten in der Nacht Angst einzujagen. Sie stellte für mich Listen mit Fragen zusammen und druckte Artikel über Forschungsarbeiten aus, die man an Menschen ohne deren Wissen oder Einwilligung
durchgeführt hatte – von der Erprobung eines Impfstoffs in Uganda bis hin zu Medikamententests an US-Soldaten. Die Informationen organisierte sie jetzt in sorgfältig beschrifteten Ordnern: einer über Zellen, einer über Krebs, einer für Definitionen juristischer Begriffe wie Festsetzungsverjährung oder ärztliche Schweigepflicht . Irgendwann stieß sie auf einen Artikel mit der Überschrift »Was ist von Henrietta Lacks noch übrig?«. Er machte sie wütend, weil darin behauptet wurde, Henrietta hätte sich das HPV vermutlich dadurch zugezogen, dass sie »häufig wechselnde Geschlechtspartner« gehabt hätte. »Die verstehen nix von Wissenschaft«, sagte sie zu mir. »Bloß weil se HPV hatte, heißt das noch lange nich, dass meine Mutter’n Flittchen war. Die meisten Leute haben es – das hab ich im Internet gelesen.«
Im April 2001, fast ein Jahr nach unserer ersten Begegnung, rief Deborah mich an und erzählte, »der Präsident von einem Krebsverein« habe sie angerufen: Er wollte sie bei einer Veranstaltung zu Ehren ihrer Mutter auf die Bühne bringen. Sie sagte, sie wisse nicht so recht, und ich solle mal herausfinden, ob er auch seriös sei.
Wie sich herausstellte, handelte es sich um Franklin Salisbury Jr., den Präsidenten der National Foundation for Cancer Research. Er hatte beschlossen, die Jahreskonferenz der Stiftung im Jahr 2001 zu Henriettas Ehren abzuhalten. Wie er mir erklärte, sollten sich am 13. September 70 führende Krebsforscher aus der ganzen Welt treffen und ihre Ergebnisse präsentieren. Die Zahl der Zuhörer sollte bei mehreren hundert liegen, darunter der Bürgermeister von Washington und der Leiter des staatlichen Gesundheitswesens. Er hoffte, Deborah werde bei dieser Gelegenheit eine Rede halten und eine Medaille zu Ehren ihrer Mutter annehmen.
»Ich verstehe, dass die Familie sich sehr schlecht behandelt fühlt«, sagte er zu mir. »Geld können wir ihnen nicht geben,
aber ich hoffe, die Tagung wird die historische Wahrheit ans Licht bringen und ihnen ein besseres Gefühl vermitteln, selbst wenn wir damit 50 Jahre zu spät kommen.«
Als ich Deborah das erklärte, war sie ganz aus dem Häuschen. Sie sagte, es werde etwas Ähnliches sein wie Pattillos Tagung in Atlanta, nur größer. Sofort fing sie an zu planen, was sie anziehen wollte, und fragte, worüber die Wissenschaftler wohl reden würden. Außerdem machte sie sich wieder einmal Sorgen, ob sie auf dem Podium auch in Sicherheit sein würde oder ob es da vielleicht ein Heckenschütze auf sie abgesehen haben könnte.
»Und wenn se nu denken, ich würd Rabatz machen, weil se die Zellen genommen haben oder so was?«
»Ich glaube, darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen«, erwiderte ich. »Die Wissenschaftler freuen sich darauf, dich kennen zu lernen.« Außerdem, so erklärte ich ihr, würde das Ganze in einem staatlichen Gebäude mit hohem Sicherheitsstandard stattfinden.
»Na gut«, sagte sie. »Aber vorher will ich die Zellen von meiner Mutter sehen, damit ich weiß, wovon die bei der Tagung überhaupt reden.«
Nachdem wir aufgelegt hatten, wollte ich Christoph Lengauer anrufen, den Krebsforscher, der Deborah das Bild mit den farbigen Chromosomen geschenkt hatte. Aber bevor ich noch seine Nummer herausgesucht hatte, klingelte mein Telefon schon wieder. Es war Deborah, und sie weinte. Ich glaubte, sie sei wieder in Panik, habe es sich anders überlegt und wolle die Zellen
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