Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
die Köpfe ihrer Enkel auf dem Schoß, gesessen hatte. Sie ging zu Zakariyya und legte ihm den Arm um die Taille. »Komm, bring uns zum Auto«, sagte sie. »Ich hab was für dich.«
Draußen öffnete Deborah die Hecktür ihres Geländewagens und wühlte in Decken, Kleidungsstücken und Papieren. Als sie sich wieder umdrehte, hatte sie das Foto von Henriettas Chromosomen in der Hand, das Christoph Lengauer ihr geschenkt hatte. Sie strich mit den Fingern über das Glas, dann gab sie es Zakariyya.
»Das sollen ihre Zellen sein?«, fragte er.
Deborah nickte. »Siehst du, wo die bunten Farben sind? Da is ihre ganze DNA.«
Zakariyya hob das Bild auf Augenhöhe und starrte es schweigend an. Deborah strich ihm mit der Hand über den Rücken und flüsterte: »Ich glaub, wenn einer das verdient hat, dann du, Zakariyya.«
Zakariyya drehte das Bild hin und her und betrachtete es von allen Seiten. »Das soll ich haben?«, fragte er schließlich.
»Ja, wär schön, wenn du es hast, häng’s dir an die Wand«, erwiderte Deborah.
Zakariyyas Augen füllten sich mit Tränen. Einen kurzen Augenblick lang schienen die dunklen Ringe zu verschwinden, und sein Körper entspannte sich.
»Ja«, sagte er mit einer leisen Stimme, die ganz anders klang als alles, was wir bisher von ihm gehört hatten. Er legte Deborah den Arm um die Schulter. »Hey, danke.«
Deborah schlang ihm die Arme um den Bauch, soweit sie reichten, und drückte ihn an sich. »Der Doktor, der mir das gegeben hat, hat gesagt, er hätte während seiner ganzen Karriere mit unserer Mutter gearbeitet und nie gewusst, woher sie kommen. Er hat gesagt, dass es ihm leid tut.«
Zakariyya sah mich an. »Wie heißt er?«
Ich sagte es ihm und fügte dann hinzu: »Er möchte sich mit Ihnen treffen und Ihnen die Zellen zeigen.«
Zakariyya nickte, den Arm immer noch um Deborahs Schulter gelegt. »Okay«, sagte er. »Hört sich gut an. Machen wir.« Dann ging er langsam zurück zum Haus, wobei er das Bild die ganze Zeit auf Augenhöhe hielt und nichts anderes sah als die DNA in den Zellen seiner Mutter.
31
Hela, die Todesgöttin
E inen Tag nachdem ich von unserem Besuchsmarathon nach Hause zurückgekehrt war, erhielt Deborah einen Anruf von einem Mann, den sie nicht kannte. Er fragte sie, ob sie bei einem Farbigenrodeo auf dem HeLa-Wagen mitfahren wolle. Gleichzeitig erklärte er, sie solle vorsichtig sein, wenn jemand nach Henriettas Grab suche – da ihr Körper für die Wissenschaft so wertvoll sei, wolle man vielleicht ihre Knochen stehlen. Daraufhin erzählte Deborah dem Mann, sie habe mit mir wegen eines Buches gesprochen, und er warnte sie, keinem Weißen ihre Geschichte zu erzählen. In Panik rief sie ihren Bruder Lawrence an, und der sagte ihr, der Mann habe recht. Also hinterließ sie mir eine Nachricht, sie könne nicht mehr mit mir reden. Aber als ich die Nachricht abgehört hatte und sie zurückrief, hatte sie es sich bereits anders überlegt.
»Alle schreien immer ›Rassismus! Rassismus! Dieser weiße Mann hat die Zellen dieser schwarzen Frau gestohlen! Dieser weiße Mann hat diese schwarze Frau umgebracht!‹ Das is doch dummes Gerede«, sagte sie. »Wir alle, ob schwarz oder weiß oder sonst was – um Rasse geht’s doch gar nich. Die Geschichte hat zwei Seiten, und das müssen wir klarmachen. Nichts über meine Mutter is die Wahrheit, wenn man damit die Wissenschaftler runtermachen will. Es geht nich darum, die Ärzte zu bestrafen oder über das Krankenhaus zu lästern. Das will ich nich.«
So ging es mit Deborah und mir ein ganzes Jahr lang weiter. Jedes Mal, wenn ich zu Besuch kam, gingen wir am Hafen von Baltimore spazieren, fuhren mit dem Schiff, lasen gemeinsam Wissenschaftsbücher und sprachen über die Zellen ihrer
Mutter. Wir nahmen Davon und Alfred mit zum Maryland Science Center. Dort sahen sie eine sechs Meter lange Wand, die vom Fußboden bis zur Decke mit einem Bild von Zellen geschmückt war. Sie waren neongrün eingefärbt und unter dem Mikroskop vergrößert. Davon nahm meine Hand, zog mich zu der Wand mit den Zellen und rief: »Miss Rebecca! Miss Rebecca! Ist das Urgroßmama Henrietta?« Die Umstehenden starrten uns an, als ich sagte: »Tatsächlich, könnte schon sein«, worauf Davon herumhüpfte und sang: »Oma Henrietta is berühmt! Oma Henrietta is berühmt!«
Irgendwann ging ich mit Deborah noch spätabends auf den kopfsteingepflasterten Straßen von Fell’s Point spazieren. Plötzlich wandte sie sich zu mir und sagte ohne
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