Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
Nummer von Sonnys Pager und streckte mich dann auf dem Bett aus, immer noch mit Telefon und Telefonbuch auf dem Schoß. Ich schlug noch einmal mein vergilbtes Exemplar des 1976 erschienenen Rolling Stone mit dem Artikel über die Familie Lacks auf. Der Autor, ein Mann namens Michael Rogers, hatte als erster Journalist überhaupt Kontakt mit Henriettas Familie aufgenommen. Ich hatte den Bericht schon viele Male gelesen, aber ich wollte jedes Wort frisch im Gedächtnis haben.
Ungefähr in der Mitte des Artikels schrieb Rogers: »Ich sitze hier in der siebten Etage des Holiday Inn in der Innenstadt von Baltimore. Durch die Doppelscheibe des Panoramafensters sehe ich eine riesige Normaluhr, die statt der Zahlen die Buchstaben B-R-O-M-O-S-E-L-T-Z-E-R trägt. Auf dem Schoß habe ich ein Telefon und das Telefonbuch von Baltimore.«
Ruckartig setzte ich mich auf. Ich hatte plötzlich das Gefühl, als befände ich mich in einer Folge von Unheimliche Geschichten . Vor mehr als 20 Jahren – als ich gerade drei war – hatte Rogers das gleiche Telefonbuch durchgeblättert. »Nach der Hälfte der Einträge mit dem Namen ›Lacks‹ wird klar, dass praktisch jeder Henrietta gekannt hat«, schrieb er. Also schlug ich das Telefonbuch noch einmal auf und fing an zu wählen; ich hoffte, ich würde jemanden von denen finden, die sie gekannt hatten. Aber sie nahmen nicht ab, oder sie legten auf, wenn ich mich meldete, oder sie sagten, sie hätten noch nie etwas von Henrietta gehört. Ich grub einen alten Zeitungsartikel aus, in dem ich Henriettas Adresse in Turner Station gefunden hatte: 713 New Pittsburgh Avenue. Ich musste vier Landkarten zurate ziehen, bevor ich eine fand, auf der Turner Station nicht von Werbeanzeigen oder vergrößert dargestellten anderen Stadtvierteln verdeckt war.
Wie sich herausstellte, war Turner Station nicht nur auf der Landkarte gut versteckt. Um hinzukommen, musste ich an
einer Betonmauer und dem Zaun entlangfahren, die das Viertel von der Interstate trennten; ich überquerte Eisenbahngleise und passierte Kirchen in alten Lagerhausfronten, Reihen von Häusern, die mit Brettern vernagelt waren, und einen summenden Stromgenerator von der Größe eines Fußballfeldes. Schließlich sah ich auf dem Parkplatz einer von Feuer geschwärzten Bar mit rosa Spitzenvorhängen ein dunkles Holzschild mit der Aufschrift WILLKOMMEN IN TURNERS STATION.
Bis heute weiß niemand genau, wie die Ortschaft eigentlich heißt oder wie man sie schreibt. Manchmal liest man den Plural (Turners Station) und manchmal die Possessivform (Turner’s Station), in den meisten Fällen aber den Singular (Turner Station). Ursprünglich war sie mit dem Namen »Good Luck« (»Viel Glück«) beurkundet worden, dieser Bezeichnung aber wurde sie eigentlich nie gerecht.
Als Henrietta in den Vierzigerjahren hierherkam, war die Ortschaft im Aufschwung begriffen. Das Ende des Zweiten Weltkrieges jedoch bedeutete für Sparrows Point einen Rückschlag. Das Unternehmen Baltimore Gas and Electric ließ 300 Wohnhäuser abreißen, um Platz für ein neues Kraftwerk zu schaffen. Zurück blieben mehr als 1300 Obdachlose, überwiegend Schwarze. Immer mehr Flächen wurden als Gewerbegebiet ausgewiesen, das heißt, man riss immer mehr Häuser ab. Die Menschen flüchteten nach East Baltimore oder zurück aufs Land, und bis Ende der Fünfzigerjahre hatte sich die Bevölkerungszahl von Turner Station halbiert. Als ich in den Ort kam, lag sie bei ungefähr 1000 mit abnehmender Tendenz, und Arbeitsplätze gab es kaum.
Zu Henriettas Zeit war Turner Station eine Ortschaft, in der niemand seine Haustür abschloss. Jetzt stand auf dem Feld, auf dem einst Henriettas Kinder gespielt hatten, ein Block mit Sozialwohnungen und einer vier Kilometer langen Sicherheitsmauer
aus Backsteinen und Beton. Geschäfte, Nachtclubs, Cafés und Schulen waren geschlossen, Drogendealer, Straßenbanden und Gewalt auf dem Vormarsch. Dennoch gab es in Turner Station nach wie vor mehr als zehn Kirchen.
In dem Zeitungsartikel, dem ich Henriettas Adresse entnommen hatte, wurde Courtney Speed zitiert, eine Einheimische, die einen Lebensmittelladen betrieb und eine Stiftung für den Bau eines Henrietta-Lacks-Museums gegründet hatte. Als ich aber zu dem Grundstück kam, auf dem sich der Laden befinden sollte, stand da nur ein grauer, verrosteter Wohnwagen, dessen zerbrochene Fenster mit Stacheldraht verrammelt waren. Auf das Schild, das davor stand, war eine einzelne rote Rose gemalt, darunter
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