Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
über die Geschichte der HeLa-Zelllinie zu schreiben. Bevor sie den Aufsatz verfassten, holte sich Jones noch einmal Henriettas Krankenakten, um sich die Einzelheiten des Falles ins Gedächtnis zu rufen. Als er die Fotos ihres Biopsiematerials sah, erkannte er sofort, dass man den Tumor falsch diagnostiziert hatte. Um sich zu vergewissern, ließ er sich das Original-Biopsiematerial kommen, das seit 1951 archiviert war.
In ihrem Aufsatz zu Ehren von Gey, der im Dezember 1971 in der Fachzeitschrift Obstetrics and Gynecology erschien, berichteten Jones und seine Kollegen, der damalige Pathologe habe Henriettas Krebserkrankung »falsch interpretiert« und »falsch etikettiert«. Es handelte sich zwar um einen invasiven Tumor, aber im Gegensatz zur ursprünglichen Diagnose nicht um ein epidermales Karzinom. Dem Artikel zufolge war es
vielmehr »ein sehr aggressives Adenokarzinom der Cervix«, das heißt, es stammte nicht vom Epithelgewebe des Gebärmuttershalses ab, sondern vom Drüsengewebe.
Derartige Fehldiagnosen waren zu jener Zeit nicht selten. Gerade 1951, im gleichen Jahr, in dem Jones die Biopsie an Henriettas Tumor vorgenommen hatte, berichteten Wissenschaftler der Columbia University über zwei Krebstypen, die leicht zu verwechseln waren und häufig durcheinandergebracht wurden.
Wie Howard Jones und andere gynäkologische Onkologen mir in Gesprächen versicherten, hätte man Henriettas Krebserkrankung auch bei einer richtigen Diagnose nicht anders behandelt. Im Jahr 1951 hatte man in mindestens zwölf Studien festgestellt, dass Adenokarzinome und epitheliale Karzinome des Gebärmutterhalses gleichermaßen auf die Strahlung ansprachen, die damals für beide Formen das gängige Therapieverfahren darstellte.
Aber auch wenn Henrietta nicht anders behandelt worden wäre, ist diese neue Diagnose möglicherweise eine Erklärung dafür, warum der Krebs sich in ihrem Körper so viel schneller ausbreitete, als die Ärzte erwartet hatten. Adenokarzinome der Cervix sind häufig viel aggressiver als epidermale Tumore. (Wie man heute weiß, könnte auch ihre Syphilis eine Rolle gespielt haben – diese Krankheit schwächt das Immunsystem und ermöglicht dem Krebs eine besonders schnelle Ausbreitung.)
Dennoch schrieben Jones und seine Kollegen, die neue Diagnose sei »nur eine Fußnote zu der unbestreitbaren Genialität von George Gey … Einem beliebten Ausspruch zufolge kommt es zu wissenschaftlichen Entdeckungen, wenn der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist«. Genau dieser Mann, so erklärten sie weiter, sei Gey gewesen, und HeLa sei das Ergebnis dieses Glücksfalls. »Hätte man sie unter
optimalen Kulturbedingungen uneingeschränkt wachsen lassen, so würde sie [HeLa] schon heute die Welt beherrschen«, schrieben sie. »Die Biopsie … sicherte der Patientin Henrietta Lacks in Form von HeLa eine Unsterblichkeit, die jetzt schon 20 Jahre währt. Wird sie ewig leben, wenn sie von den Händen zukünftiger Forscher genährt wird? Schon jetzt ist Henrietta Lacks, erst als Henrietta und dann als HeLa, 51 Jahre alt.«
Es war das erste Mal, dass Henriettas Name in gedruckter Form auftauchte. Mit ihm wurde auch zum ersten Mal das heute allgegenwärtige Foto von Henrietta mit den in die Hüften gestemmten Hände veröffentlicht. Die Unterschrift lautete »Henrietta Lacks (HeLa)«. Mit dieser Veröffentlichung stellten Henriettas Arzt und seine Kollegen ein für alle Mal eine Verbindung zwischen Henrietta, Lawrence, Sonny, Deborah, Zakariyya, ihren Kindern, allen zukünftigen Generationen der Familie Lacks und den HeLa-Zellen sowie der in ihnen enthaltenen DNA her. Nun verbreitete sich Henriettas Identität ebenso schnell wie ihre Zellen von einem Institut zum anderen.
Nur drei Wochen nachdem Henriettas Name zum ersten Mal an die Öffentlichkeit gelangt war, unterzeichnete Richard Nixon ein neues Gesetz, den National Cancer Act. Damit begann der Krieg gegen den Krebs, mit dem der Krebsforschung für die folgenden drei Jahre insgesamt 1,5 Milliarden Dollar zugesagt wurden. Nach Ansicht vieler Beobachter sollte dieser Schachzug dazu dienen, die Aufmerksamkeit vom Vietnamkrieg abzulenken. Nixon verkündete, die Wissenschaftler würden innerhalb von fünf Jahren, gerade rechtzeitig zur 200-Jahr-Feier der Vereinigten Staaten, eine Heilung für Krebs finden. Mit der neuen Finanzierung verband sich ein starker politischer Druck auf die Wissenschaftler, den vom Präsidenten gesetzten Termin einzuhalten. In einem
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