Die unterirdische Sonne
hatte, hielt sie ihn für vertrauenswürdig und für einen Menschen ohne eisige Gedanken.
In ihren Augen hatten fast alle Menschen eisige Gedanken, und die meisten hatten sogar eine eisige Seele, weshalb man ihren Atem sehen konnte, wenn sie redeten.
An einem sonnigen Samstag im Herbst trafen sich Herr Montag und Frau Morgenroth zufällig in der »Linde«. Das Gasthaus lag wenige Meter vom Tierpark entfernt, in den sie, unabhängig voneinander, eigentlich gehen wollten. Aber plötzlich hatten beide Angst, dass zu viele Leute dort sein könnten und kehrten stattdessen in dem Speiselokal ein. Außer zwei Männern am Stammtisch war sonst niemand da.
Frau Morgenroth wählte den Tisch hinter der Tür. Herr Montag ging fünf Tische weiter und nahm vor einem Fenster Platz. Nachdem er das erste Weißbier getrunken und schon das zweite bestellt hatte, beobachtete er Frau Morgenroth. Er hielt den Kopf gesenkt, damit sie nichts merkte, und lugte hinter vorgehaltener Hand hervor.
Frau Morgenroth hatte ihren Mantel nicht ausgezogen, nur aufgeknöpft, und ihre Hände in die Taschen gesteckt. Vor ihr stand ein Glas Weißwein, das sie kaum anrührte. Sie trank immer nur einen winzigen Schluck und vergrub die Hand sofort wieder im Mantel. Obwohl draußen die Sonne schien und das Lokal geheizt war, fröstelte sie.
Eigentlich war ihr jeden Tag kalt. In ihren Träumen fiel die meiste Zeit Schnee. Das kam daher, dass ihre Tochter Sara die ganze Sonne mit ins Grab genommen hatte. Mit der Zeit hatte Frau Morgenroth sich beinah daran gewöhnt, aber am morgigen Sonntag war der zehnte Todestag ihrer Tochter und deshalb konnte sie an nichts und niemanden sonst denken. Es störte sie nicht, dass Leute ihr dabei zusahen, wie sie zitterte und einen merkwürdigen Eindruck machte.
Dass ihr Nachbar von seinem Fensterplatz im Lokal dauernd zu ihr herüberschaute und so tat, als säße er bloß nachdenklich da, hätte sie komisch gefunden, wenn heute nicht so ein trauriger Tag wäre.
Vielleicht, überlegte sie, hätte sie doch in den Tierpark gehen sollen. Nie hatte die kleine Sara einen glücklicheren Gesichtsausdruck gehabt, als wenn sie den Giraffen zuwinkte oder die Elefanten oder die Affen anfeuerte und mit staunenden Augen dem Pfau zuschaute, wenn er ein Rad schlug. Ihre Lieblingstiere waren die Seelöwen, die durchs Wasser sprangen und Kunststücke vollbrachten. Da vergaß sie sogar ihr Eis in der Hand. Ihre Ma musste sie immer hochheben, damit Sara über den Beckenrand und die Köpfe der anderen Besucher schauen konnte.
Nach Saras Tod war Frau Morgenroth jedes Jahr ein Mal in den Zoo gegangen, um an die schönen Stunden zu denken. Meist weinte sie dann hinter ihrer dunklen Sonnenbrille, und wenn sie im Gedenken an ihre Tochter eine Tüte Eis kaufte, fiel es ihr aus der Hand, weil sie so zitterte.
Trotzdem, dachte sie und nippte an ihrem Weinglas, hätte sie heute, einen Tag vor dem zehnten Todestag, vielleicht doch hingehen und die anderen Leute einfach ignorieren sollen.
Traurig und schuldbewusst warf sie einen Blick zum Tisch am Fenster. Herr Montag hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Frau Morgenroth sah, dass er nicht mehr zwischen den Fingern hindurchblinzelte, sondern ganz mit sich selbst beschäftigt schien. Sie wusste nichts von ihm, außer, dass er allein lebte wie sie und ein verschlossenes Wesen hatte.
Vielleicht, dachte sie und wandte den Blick ab, weil sie nicht aufdringlich wirken wollte, hatte auch Herr Montag einen Verlust im Herzen, der ihn zum Alleinsein zwang.
So war das an diesem Samstag im Herbst. Ihr müsst euch vorstellen, dass Herr Montag und Frau Morgenroth bald die einzigen Gäste im Gasthaus »Zur Linde« waren. Die beiden Männer vom Stammtisch hatten sich verabschiedet und die Bedienung saß am Tisch beim Tresen und las in der Zeitung.
Kurz vor oder kurz nach sechs Uhr abends jedoch ging die Tür auf und ein neuer Gast kam herein. Mit diesem Gast hätten weder Frau Morgenroth noch Herr Montag gerechnet. Sie hoben beide gleichzeitig den Kopf und trauten ihren Augen nicht.
Ohne jemanden zu grüßen, setzte sich Frau Bauchberg mit ihrer Rottweiler-Hündin an den Tisch in der Mitte des Raumes und hielt sofort nach der Kellnerin Ausschau.
Dem Hund hing die Zunge aus dem Maul, er hechelte, der Sabber lief ihm rechts und links über die Lefzen.
In diesem Moment sah Frau Morgenroth wieder das Bild vor sich, wie der fremde, große Hund durch den Biergarten jagte, laut bellend und mit weißem Schaum vor
Weitere Kostenlose Bücher