Die unterirdische Sonne
fürchterlich weinen.
Sie hob den Kopf. Vor lauter Glück, ihren Sohn gesund wiederzusehen, nahm sie ihm den Löwen aus der Hand und drückte ihn so fest an ihren Körper, wie sie ihre beiden Söhnen oft in der Nacht umarmt hatte, wenn sie vor Erschöpfung am liebsten fast gestorben wäre.
Timm stand immer noch da und wusste nicht, was geschehen war. Durch das offene Fenster wehte ein kalter Wind herein. Von der Krähe war nichts mehr zu sehen und zu hören. Dafür hörte Timm etwas anderes und er traute seinen Ohren nicht.
Wo warst du denn so lange?, fragte seine Mutter, und sie fragte es wirklich. Timm sah ihren Mund, wie er sich bewegte.
Ich wollt grad die Polizei anrufen, sagte seine Mutter mit genau der Stimme, die Timm von früher kannte. Denn Marissa war eine echte Sängerin gewesen, die auf einer Bühne auftrat und mit einer Band amerikanische Lieder sang. Dann war sie krank geworden und hustete tagelang, und als sie wieder gesund war, hatte sie keine Stimme mehr.
Und jetzt war ihre Stimme wieder da!
Ich kann wieder sprechen, sagte sie und drückte den zotteligen Löwen an ihr Herz und weinte wieder, aber diesmal anders. Timm ging zu ihr und umarmte sie und stellte sich vor, wie seine Mutter auf einer Bühne Lieder sang und Geld verdiente und vielleicht so berühmt werden würde wie Finn in seinem Verein.
Und da begriff Timm, dass die Krähe, von der er nicht einmal wusste, wie sie hieß, eine Stimmensammlerin war.
Wenn jemand irgendwo auf der Welt seine Stimme verlor, sammelte sie sie ein und brachte sie in Sicherheit für den Fall, dass jemand auftauchte, der nach ihr suchte.
Und Timm begriff auch, dass er immer, eigentlich jeden Tag, nach der Stimme seiner Mutter gesucht hatte, obwohl ihm das gar nicht klar gewesen war. Er wollte unbedingt, dass seine Mutter wieder singen konnte, weil sie dann glücklich war und ein Licht im Herzen hatte, das aus ihren Augen leuchtete.
Viele Jahre später wohnte Marissa mit ihren Söhnen in einem großen Haus am Fluss, in dem jeden Morgen die Sonne aufging. Im Keller war ein perfektes Tonstudio. Dort nahm Marissa ihre Songs auf, die sie inzwischen alle selber komponierte. Das Haus war ein Geschenk ihres Sohnes Finn, der in der Nationalmannschaft spielte und schon einmal zum Spieler des Jahres gewählt worden war. Und auch ein Geschenk von seinem Zwillingsbruder, einem ziemlich bekannten Sportjournalisten.«
Leon rieb seine Fäuste aneinander und wagte nicht, jemanden am Tisch anzusehen. Maren neben ihm hatte die Augen geschlossen und lächelte. Noah, der ihm schräg gegenüber saß, drehte eine Zeit lang seinen Stock mit einer Hand und strich sich schließlich die Haare aus den Augen. »Und von wem ist das?«, fragte er.
Leon ruckte mit dem Kopf. »Von mir. Von wem denn sonst?«
»Quatsch«, sagte Noah. »Jetzt mal ehrlich. Ist das ein Geheimnis, von wem die Story ist?«
»Die ist von mir.« Leons Stimme klang laut und gereizt, so, wie noch keiner sie gehört hatte.
»Ist auch wurscht«, sagte Noah.
»Könnt ihr mal still sein?« Sophia warf einen finsteren Blick in die Runde.
»Wollt nur wissen, von wem Leon die Story geklaut hat«, sagte Noah.
»Ich hab die nicht geklaut«, sagte Leon.
»Der war gut.«
»Hältst du mich für blöde?«
»So gut kenn ich dich noch nicht, Noel.«
»Du Depp.«
»Obacht, Kleiner, pass auf …«
»Sch-schsch«, machte Maren. »Sch-schluss m-mit S-streit. J-jetzt k-kommt der N-Nächste d-dran. C-Conrad.«
Conrad wirkte nicht begeistert, sagte aber nichts. Noah, der neben ihm saß, beugte sich näher zu ihm und wartete ab.
»Schau mich nicht so an«, sagte Conrad.
Noah wandte sich ab.
Conrad hielt sich die Hände vors Gesicht und dachte an einen alten Traum. Darin hatte er sich in ein Pferd verwandelt, und als er aufwachte, hatte er in sich eine Kraft wie noch nie empfunden.
»Es war einmal …«, begann Conrad, nahm die Hände herunter und sah zur Decke hinauf.
17
»Es war einmal ein Mann, der wohnte im neunten Stock eines Hochhauses. Das Haus hatte eine blaue Fassade und stand am Rand einer breiten Ausfallstraße, oberhalb des Tierparks der Stadt. Früher war der Mann ein berühmter Skifahrer gewesen, das war lang her. Heute sah er die Berge nur noch aus der Ferne und wenn ein spezieller Wind wehte, der die Entfernungen veränderte. Doch die Dinge der Welt interessierten den Mann nicht mehr.
Er lebte allein und verließ nur selten seine kleine Wohnung. Er war noch nicht alt, wirkte aber wie ein Greis mit
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