Die unterirdische Sonne
Stücke zersplitterte, und auf der anderen Straßenseite liegen blieb.
Der Huf eines mächtigen Pferdes, dessen Fell im trüben Licht der Gaststätte goldbraun glänzte, hatte den Hund wie einen Kieselstein ins Freie getreten.
Mit einem verzweifelten Röcheln griff Frau Bauchberg sich ans Herz, fiel vom Stuhl und starb in derselben Sekunde wie draußen ihre Hündin, die ihre einzige Begleiterin im Leben gewesen war.
Frau Morgenroth aber war in Windeseile zuerst auf den Tisch und dann auf den Rücken des Pferdes geklettert, das nun aus dem offenen Fenster sprang und durch die Lüfte galoppierte. Auf den Straßen krachten Autos ineinander, weil die Fahrer nur noch zum Himmel hochschauten.
Und als sie den Strand am blauen Meer jenseits ihres früheren Lebens erreichten und die glühende Abendsonne wie das Auge Gottes den Sand und die Dünen segnete und als der Wind durch die Mähne des Pferdes und die Haare von Frau Morgenroth strich und als Frau Morgenroth sich am Hals des Pferdes – sie hatte es Montag getauft – festhielt und ihren Körper an seinen bebenden, warmen Rücken schmiegte, winkte plötzlich ein kleines Mädchen aus den Dünen.
Frau Morgenroth ermahnte Montag, langsamer zu werden. Und als das Mädchen näher kam, sah Frau Morgenroth, dass es hellbraune Haare und grüne Augen hatte und genauso aussah wie ihre Tochter Sara. Dann stand das Mädchen vor ihr, und Frau Morgenroth umarmte es und wusste, dass sie sich nie wieder trennen würden.
Und so lebten sie länger als die Ewigkeit. Und wenn es ihnen gefiel, setzten sich Frau Morgenroth und Sara auf Montags Rücken und ritten am Meer entlang, Kilometer um Kilometer, Tag um Tag, Jahr um Jahr, denn es gab keine Zeit mehr, kein Leid und kein Alleinsein.«
Danach war es lange still im Keller.
Dann sagte Noah: »Schluchz.«
Niemand reagierte.
Nach einigen Minuten klopfte Noah behutsam, aber bestimmt mit dem Stock auf den Boden.
»Und was genau sind Lefzen?«, fragte er und sah jeden einzelnen an. Er bekam keine Antwort.
Wieder vergingen Minuten in absoluter Stille. Conrad kippte mit dem Stuhl nach hinten und lehnte sich gegen die Wand. Maren bildete sich ein, einen salzigen Geschmack auf der Zunge zu spüren. Jeder verbarg sein Staunen über die Geschichten von Leon und Conrad.
Wie besessen grübelte Noah darüber nach, was er den anderen auftischen könnte, und er hatte auch schon ein paar Ideen, mit denen sie hundertprozentig nicht rechneten. Doch dann vergaß er alles wieder und versank im Zuhören.
»W-oran d-denkst d-du?«, fragte Maren Sophia.
Sophia dachte an ein Spiel, das sie mit ihrer Freundin, die auch Ministrantin war, im vergangenen Jahr erfunden hatte, ein Spiel mit Gestalten aus der Bibel. Die mussten so erzählt werden, wie niemand sie kannte. Die Jungs in der Gruppe lachten sie deswegen aus, aber die hielten auch Computerspiele für origineller als das Alte Testament.
Maren strich Sophia über die Wange. »D-du b-bist d-dran.«
Eigentlich hielt Sophia ihre Geschichte nicht für ein Märchen, sondern eher für eine vielleicht wahre Begebenheit. Aber was die Jungen bisher erzählt hatten, hatte auch nicht unbedingt erfunden geklungen – trotz der vielen Fantasie, die sie den beiden, wenn sie ehrlich war, nicht zugetraut hätte.
Sophia krallte die Hände ins Kleid und holte Luft. »Es war einmal vor langer langer Zeit …«, begann sie.
Noah hob den Daumen und grinste kurz vor sich hin.
18
»Es war einmal tausend Jahre und mehr vor der Geburt Jesu, da wuchs in einem kleinen Dorf im Philisterland ein Junge auf, der von Geburt an eine besondere Fähigkeit hatte: Er konnte lauter schreien als alle anderen Kinder. Seine Mutter wäre vor Schreck fast gestorben, als die Hebamme ihr das Baby an die Brust legte und es plötzlich mit dämonischer Stimme zu brüllen anfing. Die Nachbarn liefen auf die Straße und flehten Gott an, weil sie einen bösen Geist vermuteten. Der Junge war aber kein böser Geist, er hatte bloß eine starke Stimme und einen wuchtigen Körper.
Mit sechs Jahren flitzte er durch die Gassen, sprang über Zäune und kämpfte mit wilden Hunden. Sprechen konnte er noch nicht, doch wenn er zu Hause die Faust auf den Tisch knallte und ein finsteres Gesicht aufsetzte, wusste seine Mama genau, was er wollte. Essen. Eine ganze Schüssel voll. Sein Hunger schien unstillbar. Seine Lieblingsspeise war gebratenes Huhn mit Zuckerschoten, dazu überbackenen Schafskäse und als Nachtisch süße Datteln, übergossen mit
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