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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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was gar keinen Sinn hatte. Schlotternd hielt er nach der Krähe Ausschau.
    Im ersten Moment dachte er, sie wäre verschwunden. Aber dann sah er, dass sie auf einem schwarzen Ast hockte, perfekt getarnt, und er erkannte sie auch nur an der hellen Mähne des Löwen in ihrem Schnabel.
    Timm kriegte Angst. Wahrscheinlich war seine Mutter inzwischen von der Arbeit zurück und machte sich die allergrößten Sorgen um ihn. Es war noch nie vorgekommen, dass er nicht da war, wenn sie kam.
    Trotzdem war er wild entschlossen, seinen Löwen wiederzukriegen.
    Schmeiß ihn runter!, rief er und musste husten, weil die Luft so kalt war und seine Stimme halb eingefroren. Er gehört mir, du bist ein Dieb, ich will mein Kuscheltier wiederhaben!
    Die Krähe breitete ihre Flügel aus und gab trotz der Beute im Schnabel einen tiefen, fast menschlich klingenden Laut von sich. Jedenfalls bildete Timm sich ein, dass er menschlich klang.
    Daraufhin schlug der Vogel noch einmal mit den Flügeln und flog tiefer in den Wald. Timm folgte ihm, obwohl er das Gefühl hatte, seine Zehen würden gleich abbrechen vor Kälte. Und weil er nicht aufpasste und immer nur nach oben blickte anstatt auf den Boden, stolperte er über eine Wurzel und fiel auf den Bauch. Tränen schossen ihm aus den Augen. Hastig wischte er sich übers Gesicht.
    Als er wieder etwas sehen konnte, hockte die Krähe direkt vor ihm, ihre Augen leuchteten unheimlich in der Finsternis. Timm nahm seinen ganzen Mut zusammen und sagte: Mach meinen Löwen nicht kaputt.
    Es sah nämlich aus, als würde die Krähe das Stofftier übel zusammenquetschen. Doch sie kehrte Timm den Rücken zu, watschelte auf den dicken Baumstamm zu, vor dem der Junge gestürzt war – und verschwand darin.
    Schnell wie ein Torwart sprang Timm auf die Beine. Er bildete sich ein, seine Knochen knacken zu hören, aber das war jetzt nicht wichtig. Zitternd streckte er den Arm aus.
    Obwohl die mächtige Fichte vor ihm wie ein Turm ins Nichts ragte, berührten seine Finger nicht die Rinde. Er machte noch einen Schritt, dann noch einen. Beim dritten Schritt hörte er das Krächzen der Krähe, es hörte sich an, als gäbe es ein Echo.
    Um ihn herum war alles schwarz.
    Die Luft roch modrig und gleichzeitig nach Fichtennadeln und nasser Erde. Timm sah sich um. Kein Zweifel: Er stand im Innern des Baumes! Und unter ihm verlief eine schmale Treppe in die Tiefe.
    Wieder ertönte das hohle Krächzen. Timm zögerte keine Sekunde. Sehr vorsichtig stieg er, wie bei einer Wendeltreppe, die moosbewachsenen Holzstufen nach unten. Dabei stützte er sich rechts und links an der Innenseite des Baumes ab. Wie lang er brauchte, bis er den Boden erreicht hatte, wusste er hinterher nicht mehr, es kam ihm ewig vor.
    Ein seltsames Summen, das immer lauter wurde, begleitete ihn. Endlich hatte er den tiefsten Punkt erreicht und konnte die eigene Hand nicht mehr vor den Augen erkennen. Die Finsternis war megafinster. Um ihn herum herrschte ein einziges Summen in verschiedenen Klangfarben, tiefere, höhere Stimmen, männliche, weibliche Stimmen von Kindern, wenn Timm sich nicht täuschte.
    Dann spürte er etwas auf seiner Schulter und erschrak. Die Krähe war wieder da und zupfte ihn am Ohr. Timm hatte den Eindruck, sie wollte ihm etwas sagen. Er griff nach dem Löwen in ihrem Schnabel, und die Krähe ließ tatsächlich los. Dann pickte sie ein weiteres Mal an Timms Ohr und schien ihn in eine bestimmte Richtung schubsen zu wollen. Das war natürlich keine richtige Richtung, denn der Raum war viel zu eng und rund.
    Aber Timm hörte jetzt, dass die Stimmen, die immer weiter summten und brummten und fast sangen, aus verschiedenen Winkeln des Baumes kamen. Er horchte genau hin. Und er hob den Stofflöwen hoch, den er endlich wiederhatte, damit auch der die Stimmen hören konnte.
    Bei einer bestimmten Stimme hielt Timm inne.
    Eine Sekunde später verstummten alle anderen. Nur die eine Stimme war noch übrig. Timm streckte die Hand mit dem Löwen nach ihr aus und dann verstummte auch diese Stimme.
    Eine Minute oder länger war es so still wie in einem Grab.
    Dann stieß die Krähe ein Krächzen aus, lauter als je zuvor, und bevor Timm noch einmal blinzeln konnte, sauste er schon durch die Luft, auf dem Rücken der Krähe, den Baum hinauf und weiter durch den dunklen Wald, hinaus auf die Weide, zurück in die Straße, wo er wohnte.
    Und als er wieder, wie durch ein Wunder, in seinem Zimmer stand, sah er seine Mutter auf seinem Bett sitzen und

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