Die unterirdische Sonne
dem Mund. Er war über Bänke und Tische gesprungen und Frau Morgenroth hatte viel zu langsam reagiert. Bis sie begriff, was überhaupt passierte, hatte der Hund – ein Dogo Argentino, wie sie später erfuhr –, schon den Spielplatz am Rand des Biergartens erreicht. Der Hund stieß Sara zu Boden und biss ihr in den Hals. Die anderen Kinder rannten davon, aber Sara hatte keine Chance. Als die Polizei kam, war sie schon tot. Einer der Polizisten erschoss den Hund, aber die Besitzer wurden vor Gericht freigesprochen. Angeblich hatten sie ihre Aufsichtspflicht nicht verletzt, der Hund sei von irgendetwas, das man nicht mehr klären konnte, provoziert worden.
Einmal, nur ein einziges Mal, dachte Frau Morgenroth und trank ihr Weinglas in einem Zug leer, wollte Sara auf einem Pferd am Meer entlangreiten, im roten Schein der Abendsonne, Kilometer um Kilometer durch heißen weißen Sand. Sie wollte den Wind in den Haaren spüren und bis zum Horizont schauen und noch weiter.
Frau Morgenroth hatte nie herausgefunden, woher ihre Tochter diesen Traum hatte. Eines Abends im Bett hatte Sara ihr davon erzählt, und danach immer wieder. Und jedes Mal versicherte Sara ihrer Mutter mit ernster Miene, sie dürfe auch auf dem Pferd mitreiten.
Der Hund starrte sie an. Breitbeinig stand er neben seinem Frauchen, das ein Kännchen Kaffee und einen Eierlikör bestellt hatte.
Frau Morgenroth drehte den Kopf zur Seite. Wenn sie nicht bald das Lokal verließ, würde etwas Schlimmes geschehen, das spürte sie.
Währenddessen trank Herr Montag sein fünftes Weißbier. Das war nicht gut. Denn immer, wenn er mehr als zwei Gläser trank, kehrte er im Kopf an den Hang zurück, den er hinuntergeprescht war, mit vier Hundertstel Vorsprung vor seinem ärgsten Verfolger. Und unmittelbar nach dem letzten Sprung, schon fast auf der Zielgeraden des Abfahrtslaufs, hatten sich aus Gründen, die er nie verstanden hatte und verstehen würde, seine Skier verhakt, und er flog wie ein Geschoss aus der Bahn. Er überschlug sich mehrmals, knallte mit den Knien immer wieder auf die vereiste Piste und landete schließlich in den Fangnetzen. Im Krankenhaus konnte er sich lange Zeit an nichts erinnern. Später, als die Ärzte seine Beine wieder zusammengeflickt hatten, schaute er sich die alten Berichte im Fernsehen an und hatte noch immer keine Erklärung für sein Versagen.
Seither betrachtete er sein Spiegelbild und dachte: Du Versager. Seine Träume von einer Weltkarriere als Abfahrtsläufer waren so kaputt wie seine Skier und seine Knie. Manchmal hatte er nur noch das Bedürfnis, der ganzen Welt einen Tritt zu verpassen.
Jetzt betrachtete er sein leeres Glas und war kurz davor, ein neues zu bestellen. Da hörte er ein dunkles Knurren. Im ersten Augenblick hatte er keine Ahnung, woher es kam, dann hörte er die krächzende Stimme von Frau Bauchberg.
Aus, Finca! Platz, Finca!
Aber der angeblich so gehorsame Hund gehorchte nicht. Angespannt, mit zuckenden Muskeln und aufgerichtetem Schwanz, stand er neben dem Tisch und gaffte wie hypnotisiert in eine bestimmte Richtung – zum Tisch von Frau Morgenroth.
Und Frau Morgenroth war aufgestanden. Wie der Hund stand sie neben dem Tisch, wie erstarrt, mit einem von blankem Hass leuchtenden Blick.
Die Bedienung verzog sich hinter den Tresen. Frau Morgenroth stemmte die Hände in die Hüften und machte einen Schritt auf Finca zu. Das Knurren wurde lauter und böser.
Frau Morgenroth hatte beschlossen, so zu sterben wie ihre Tochter. Sie wollte ihr Leben nicht mehr mit trauern und allein sein verbringen. Sie wollte nachts nicht mehr hochschrecken, weil sie im Traum geglaubt hatte, sie würde ertrinken. Und dann feststellen, dass es nur die vielen Tränen waren, die sie im Schlaf vergossen hatte und in denen sie unterging. Sie wollte jetzt zu Sara im Himmel.
Sie wollte, dass der alte Köter sie zerfleischte, damit sie endlich ihren Frieden fand und sich ihr Schicksal mit dem ihrer unschuldigen Tochter vereinte.
Die Hündin bellte nur ein einziges Mal. Es klang höllenartig und grausam. Eisiger Hauch umwaberte ihren schwarzen Schädel. Dann vibrierten ihre Muskeln und sie setzte zu einem gewaltigen tödlichen Sprung an.
Die Bedienung stieß einen Schrei aus. Doch bevor der Rottweiler die unbeweglich dastehende Frau Morgenroth erreichte, wurde er von etwas so heftig getroffen, dass er sich in der Luft überschlug, auf das Fenster zuflog, die Scheibe durchbrach, die mit einem ohrenbetäubenden Klirren in tausend
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