Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
Vom Netzwerk:
verstehen, dass er der nächste Tote sein würde. Bis es so weit war, durfte er im Keller bleiben und musste nicht mal das Bad sauber halten. Auch keiner der anderen hatte sich seit jenem Tag um das Bad gekümmert, was Conrad völlig logisch erschien. Zu ihrem Deal gehörte die Befreiung vom Putzdienst, und sie dachten, er würde nicht merken, wie sie ihn austricksten. Bestimmt glaubten sie, er habe, als er vor etwa drei Wochen an der Reihe war und sich wortlos geweigert hatte, aus eigenem Willen eine mutige Tat begangen. Stattdessen war ihm, da von oben niemand kam und ihn bestrafte, ein für alle Mal klar geworden, dass es keine Rolle mehr spielte, ob er Anweisungen befolgte. Sein Tod war beschlossene Sache und die anderen wussten es. Ihnen konnte nichts passieren, sie hatten sich arrangiert. Nur ihn stellten sie als Blödmann hin. Eigentlich überraschend, dachte er, dass sie ihn nicht auslachten.
    In seinem Inneren tobte ein Krieg unter Kriegern aus blankem Hass. Sie hassten einander und sich selbst. Conrad kapierte nicht, wieso er nicht längst den ersten Schritt gemacht hatte und dem Mann, der das Frühstück brachte, folgte, bis der keine andere Wahl hätte als ihn mitzuschleifen und den Rest zu erledigen. Für Conrad hatten sich nicht nur die Welt und seine Freunde gegen ihn verschworen, sondern auch er selbst.
    Wenn er genau darüber nachdachte – und das tat er an diesem Freitagmorgen im November –, wucherte seit Noahs Ermordung ein Selbsthass in ihm, gegen den der Verrat der anderen ein Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel war.
    Eigentlich hatte Conrad gar nicht angefangen, sie zu hassen, das war eine Selbsttäuschung. Er hatte nur aufgehört, noch einen Funken Hoffnung in sie zu investieren. Sie waren kleine Kinder und erzählten sich Märchen.
    Wie er sich dafür hasste, ebenfalls ein Märchen erzählt zu haben.
    Doch obwohl sie Kinder waren, bewiesen sie genügend Cleverness, ihn einige Tage in falschem Glauben zu wiegen. Zwei, drei Tage nach Noahs Tod hatte er die Unterschiede noch nicht bemerkt und Leon und die beiden Mädchen bemitleidet, wenn der Mann einen von ihnen nach oben mitnahm. Er hatte geglaubt, alles wäre wie immer. Dass sie unverändert zurückkehrten, fiel ihm nicht auf. Er schaute sie nicht einmal an. Um ihnen die Scham zu ersparen. Dabei war er es, den sie heimlich beobachteten und kontrollierten, damit er sie weiterhin für gleichgesinnte Opfer hielt.
    Er hasste sich für seine Naivität. Zum Glück begriff er schließlich, was vor sich ging, und hörte auf zu sprechen. Sie fragten nicht nach, kümmerten sich nicht weiter darum, redeten zu dritt weiter. Verrätergewäsch.
    »Du kommst mit«, sagte der Mann.
    Conrad hatte nicht hingehört. Dann hob er den Kopf und sah in die unbeweglichen Augen des Mannes.
    »Raus hier!«
    Mit einem Mal kam es Conrad vor, als würde er von den Zehen bis zur Stirn zu Eis erstarren.
    »Bist du taub?«
    Plötzlich stand der Mann direkt vor ihm. Conrad sah die Augen und wollte etwas erwidern. Da packte der Mann ihn im Nacken und schob ihn nach draußen in den Flur. Ohne den Griff zu lockern, drehte der Mann mit der anderen Hand den Schlüssel im Schloss, steckte ihn in seine schwarze Jacke und trieb Conrad vor sich her die Steintreppe hinauf.
    Sein Herz, dachte Conrad vage, schlug unter einer meterdicken Eisschicht.
    Oben band der Mann einen fusseligen Wollschal um Conrads Augen und dirigierte den Jungen in einen überhitzten Raum. Conrad zitterte am ganzen Körper. Er hörte, wie seine Zähne aufeinanderschlugen, und hatte keine Kraft, seine Muskeln zu kontrollieren.
    Er stand da und nichts passierte.
    Er musste nichts tun, sich nicht ausziehen, keine Befehle befolgen. Der Geruch kam ihm vertraut vor. Dann dachte er, es war vielleicht sein eigener. Eigentlich glaubte er nicht, dass er noch fähig war, über sich hinaus zu riechen.
    Alles, was ihm geblieben war, waren Gedanken, die durch seinen Kopf galoppierten wie das Pferd Montag, das er erfunden hatte.
    Eine Minute lang tröstete ihn die Vorstellung, dass er einmal etwas erfunden hatte, was anderen eine Freude bereitete. Sofort wünschte er sich zurück in einen Traum vom Autofahren oder Fliegen übers Meer.
    Dann bildete er sich ein, den Geschmack von Salz und Sand auf der Zunge zu spüren.
    Er war sich nicht sicher. Er schwankte. Er konnte es nicht verhindern.
    An seinen Hass dachte er nicht mehr.
    Er kam sich vor wie ein anderer. Das stimmte nicht, dachte er. Er war kein anderer, er war er selbst,

Weitere Kostenlose Bücher