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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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schleifte ihn durch die Wohnung, die Treppe hinunter. Conrads Knie schlugen auf den Kanten der Steinstufen auf.
    Im Kellerraum warf der Mann ihn auf den Boden, riss ihm den Wollschal vom Kopf, verriegelte die Tür und verschwand.
    Wimmernd zog Conrad die Beine an den Körper und presste die Hände vor sein Gesicht. Von irgendwo aus den Katakomben seines ausgehöhlten Körpers stieg eine Melodie in ihm hoch und drang durch seine geschlossenen Lippen. Für die drei anderen klang sein Summen wie eine Beschwörung. Sie wechselten kein Wort, keinen Blick, sie schoben ihre Matratzen nebeneinander und legten die Hände auf ihre Rücken. Am nächsten zu Conrad lagen die Mädchen, Leon berührte Sophias Seite und hätte am liebsten seine Wange an ihre geschmiegt.
    Das raue, unheimliche Summen dauerte an, während sie ihre Gedanken verscheuchten und ihr Herz schlagen hörten und darauf warteten, dass das Licht ausging und die Dunkelheit sie für immer verschlang.
    So, wie die Dunkelheit Noah und Eike und all die anderen Kinder verschlungen hatte, von denen das Fernsehen berichtete und aus deren Gesichtern vielleicht eines Tages Sonnenblumen wuchsen, die niemand erkannte, sondern die einfach bloß gepflückt wurden.
    Ich will jetzt tot sein, dachte Leon.
    Ich will jetzt tot sein, dachte Sophia.
    Ich will jetzt tot sein, dachte Maren auf der anderen Seite von Conrad.
    Und Conrad hob ein wenig den Kopf. »Entschuldigung«, sagte er heiser. »Ich möcht mich bei euch allen entschuldigen.« Dann bettete er sein Gesicht wieder in seine eisigen Hände.
    Von den dreien wusste keiner, was er meinte, aber sie fragten nichts.
    Die Glühbirne unter dem blauen Lampenschirm an der Decke brannte die ganze Nacht.

22
    »W-weißt d-du, d-dass i-ich …« Seit einigen Tagen brachte Maren keine ganzen Sätze mehr heraus. Aus Scham kauerte sie im Bad auf dem Boden und holte hektisch Luft in der Hoffnung, die Buchstaben blieben dann besser aneinander hängen. Sie murmelte vor sich hin, verschluckte sich oft und kehrte erst wieder in den Raum zurück, wenn Sophia zu ihr kam, sie in den Arm nahm und ihr versicherte, Leon, Conrad und sie würden ihr immer zuhören, egal, wie lang sie für einen Satz brauchte. Das glaubte Maren nicht, aber ein wenig tröstete sie es doch.
    »W-weißt d-du …« Sie saß am Tisch vor der Wand, neben Sophia, die beiden Jungen ihr gegenüber. Die meiste Zeit schwiegen sie, hockten reglos da und kreuzten scheu die Blicke, die Mädchen in ihren grau gewordenen Kleidern, Conrad und Leon in ihren schmutzigen Trainingshosen und Sweatshirts, farblos wie ihre Gesichter. Mit dumpfer, müder Verzweiflung horchte jeder auf Schritte vor der Tür, und weil diese ausblieben, misstrauten sie ihren Ohren und lauschten noch verbissener.
    Nur ein einziges, immer wiederkehrendes Ereignis riss sie aus ihrer Starre und fegte ein flüchtiges Lächeln über ihre Münder.
    Jedes Mal, wenn ein Magen knurrte, zeigten drei von ihnen blitzschnell mit dem Finger auf den Betreffenden. Jeder wusste sofort, woher das Knurren kam, und wenn es das eigene war, war es beinah zum Lachen.
    Wie das Lachen ging, wussten sie nicht mehr.
    Auch ihr Lächeln nahmen sie nicht wahr. Sie meinten, ihre Lippen würden bloß sinnlos zucken.
    Das Licht brannte Tag und Nacht.
    Den Fernseher hatte Conrad nach Noahs Tod nicht wieder angestellt.
    Manchmal schlief einer von ihnen am Tisch ein, vornübergebeugt, mit dem Kopf auf den Armen. Jemand holte dann die Wolldecke und legte sie dem Schlafenden um die Schultern.
    Wenn einer glaubte, es wäre Nacht, legten alle sich auf ihre Matratze, zogen die Decke über den Kopf und harrten aus.
    So verging ein Tag, ein zweiter, ein dritter, stundenlos in unbarmherziger Stille.
    Maren gab nicht auf. »W-weißt d-du, d-dass i-ich …«, begann sie an diesem namenlosen Kellertag – auf der Insel Vohrland und in der westlichen Welt war es Dienstag, der sechsundzwanzigste November –, »… d-dir ein M-Märchen er-erzählt h-hab, So-Sophia …« Sie rang nach Luft und empfand eine große Erleichterung. Endlich war ihr wieder ein Satz geglückt. Das hoffte sie zumindest. Sie hatte verlernt, zu sprechen und sich dabei zuzuhören.
    »Wann denn?«, fragte Sophia.
    »G-gestern, v-vorgestern, i-irgendw-wann …«
    Ihr zu widersprechen, hätte Sophia niemals gewagt. Anlügen wollte sie ihre Freundin jedoch auch nicht. »Bist du dir sicher?«, fragte sie.
    »G-ganz, g-ganz s-sicher. A-a …«
    »Nicht so schnell, Maren.« Sophia griff nach

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