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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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nur schon tot.
    Das war es, was er die ganze Zeit in der klirrenden Kälte seiner Empfindungen dachte: dass so das Sterben ging, genau so, genau in diesem Moment, der viele Minuten dauerte, vielleicht eine Stunde.
    Sein Vater hatte ihm einmal von einem Freund erzählt, der beim Skifahren in eine Lawine geraten und verschüttet worden war und dabei fast gestorben wäre. Er habe, berichtete der Mann später, nichts gespürt und sei in der Kälte eingeschlafen wie in einem schützenden Mantel.
    In einem schützenden Mantel, dachte Conrad. Dann fiel ihm auf, dass er an seinen Vater gedacht hatte. Diese Vorstellung erfüllte ihn mit einer so unbändigen Freude, dass er einen lauten Seufzer ausstieß.
    Er war kaum fähig, seine eigene Stimme zu erkennen.
    Eine Zeit lang horchte er dem Geräusch nach, das aus seinem Mund, den er anscheinend unbemerkt geöffnet hatte, gesprungen war.
    Gern hätte er etwas gesagt, doch ihm verrutschten dauernd die Buchstaben im Kopf. Und als er mit unendlicher Anstrengung in Gedanken das Wort DANKE zustande brachte und sein Mund schon beinah darauf wartete, durchbrach eine andere Stimme die gefrorene Stille.
    »Woran denkst du? Hast du Angst?«
    Das war die Stimme einer Frau. Er glaubte, sie wiederzuerkennen. Wenn es dieselbe war, kannten die anderen sie ebenfalls.
    Zum ersten Mal, seit er jetzt hier oben war, erinnerte er sich an die anderen. Sie waren so weit außerhalb von ihm gewesen wie der Rest der bewohnten Welt.
    Er war nicht allein, dachte er. Wir sind alle nicht allein.
    Oder doch?
    »Wer bist du?«, fragte die klanglose Stimme. Jetzt war Conrad sich sicher, dass es die Frau war. »Meinst du, du bist jemand?«
    »Was?« Er wusste nicht, woher seine Stimme kam.
    »Warum bist du hier? Was meinst du, Kind?«
    »Ich bin …« Erschrocken verstummte er wieder.
    Die Frau musste näher gekommen sein. Er roch süßes Parfüm und noch etwas Anderes, Unbekanntes. Sie ging um ihn herum, das spürte er. Er hörte das Rascheln ihrer Kleidung. Wieder war da dieser Geruch, wie nach Abfall. Sonst schien niemand im Zimmer zu sein, er hörte kein Keuchen, kein sonstiges Geräusch. Offensichtlich hatte der Mann, der ihn abgeholt hatte, die Tür hinter sich geschlossen. Conrad drehte den Kopf. Er hatte keine Ahnung, wo die Frau gerade stand.
    »Was bist du, mein Kind?« Ihre Stimme kam aus der Entfernung, wie vorher. »Du täuschst dich, du bist niemand. Weißt du, warum ich dich hab holen lassen? Um dich noch einmal zu sehen. Wir werden verreisen, du auch. Ich hab versucht, euch wirklich zu lieben, das ist mir nicht gelungen. Der arme kleine Noah. War sein Name nicht Noah?«
    »Er hieß Hoan«, sagte Conrad. Seine Stimme war stärker als seine Furcht.
    »Nein, mein Kind, da irrst du dich. Er hieß Noah, das weiß ich. Der arme Kleine. Er war so empört am Ende, so voll von kindlichem Zorn. Wie ich das verabscheue. Diese Selbstherrlichkeit. Ihr vergöttert euch und seid doch nichts als blinde, schmutzige Kreaturen. Ich hab ihn beinah geliebt, den kleinen Noah, und auch Leon …«
    »Er heißt Noel«, sagte Conrad. Er hatte das Gefühl, aus seinen Beinen floss das Blut in den Boden und würde ihn mit hinunterziehen.
    »Ach was«, sagte die Frau gleichgültig. »Sie gehorchten alle nicht, Noah, Leon, die eingebildeten Mädchen. Alle standen sie noch einmal an dieser Stelle, wie du, standen da und rührten mich nicht an, wie die armen Kinder in den Märchen. Ekelhaft, dieser Anblick. Und nun bist du an der Reihe. Du bist der Älteste und siehst doch aus wie ein Kind, das verzweifelt überlegt, wie es seinen Eltern Schaden zufügen kann. Wir haben dir den Kopf geschoren und du warst trotzdem nicht folgsam. Ich wollte dich retten, zu einem besseren Menschen machen. Die Mühen waren vergebens. Warum? Gib mir eine Antwort, Conrad. Gib mir einmal die richtige Antwort, das würde mir genügen. Und was tust du? Wieder? Du sagst nichts. Stehst nur da und zitterst und hast Angst. Nicht einmal deine Angst schützt dich vor deiner Nichtsnutzigkeit. Wenn du dich sehen könntest! Wenn ihr euch alle sehen könntet! Zurück unter die Erde! Zurück!«
    Conrad spürte seine Beine nicht mehr.
    »Wo ist Noah?«, fragte er mit winziger Stimme. »Wo … wo ist Eike?«
    Er fuchtelte mit den Armen, streckte sie aus, griff mit den Händen in die Luft wie nach einem Geländer und kippte vornüber. Im selben Moment ging die Tür auf. Schritte waren zu hören. Der Mann, der ihn hergebracht hatte, packte ihn unter den Achseln und

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