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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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geschlagen, dass niemand die Männer kommen hörte. Der eine sperrte die Eisentür auf, und zu zweit stürzten sie auf Noah zu, packten ihn und wollten ihn nach draußen zerren.
    Er riss sich los und schlug mit dem Stock um sich, stach mit der Spitze in die Luft und schrie: »Ich fang mir Möwen aus der Luft und dreh ihnen den Hals um! Ich werd euch an die Wildschweine verfüttern! Rache für …«
    Einer der Männer, die schwarze, schwere Jacken trugen, bekam Noah zu fassen und riss den Kopf des Jungen herum.
    Die Stille war ein Grab aus Luft.
    Minutenlang starrten die beiden Männer und die Jugendlichen den toten Jungen an. Dann bückte sich der Mann, der Noah das Genick gebrochen hatte, und schleifte den Jungen an den Armen in den Kellerflur. Der andere Mann hob den Stock auf, ging nach draußen und verriegelte das Schloss.
    Die Jugendlichen, die bei Noahs Gegenwehr vom Tisch aufgesprungen waren, standen reglos da. Sekunden später ging das Licht aus.
    »Vater unser, der du bist im Himmel«, flüsterte Sophia.
    Aber niemand stimmte ein, und so verstummte auch sie wieder, bis zu den Lippen angefüllt mit schwarzer Angst.

20
    DAS BILD
    Sie glaubten, dass sie Schatten
    wären, weil sie keine Gesten,
    keine Blicke, keine Stimmen hatten.
    Sie glaubten, dass sie Schatten
    wären, weil sie mundtot unterm
    Erdreich hausten, weggesperrt wie Ratten.
    Sie glaubten, dass sie Schatten
    wären, weil sie niemals schwebten,
    nie zum Himmel sahn aus Hängematten.
    Sie glaubten, glaubten immer,
    alles, was noch käme, wären
    neue Wunden, neue Schmerzenszimmer.
    So ausgesetzt im Glauben,
    wagten sie nicht mehr zu ahnen,
    fingen beinah an, sich selbst zu rauben.
    Und eines Morgens, eines
    bleichen Tags wie viele, kam ein
    Bild ins Herz der Vier und schien wie keines.
    Von diesem Bild erfahren
    alle, die sich traun: Sophia,
    Conrad, Leon, du und wir und Maren.

D RITTER A KT

21
    Jeden Morgen zwischen neun und elf Uhr standen sie nebeneinander vor der Wand und durften sich nicht an den Händen halten. So lautete die Anweisung seit dem Tag von Noahs Tod. Noah, der nicht einfach gestorben, sondern ermordet worden war, in der Gegenwart von fünf Zeugen, von denen einer niemals die Wahrheit sagen würde. Und nach mehr als einem Monat lebten die vier anderen Zeugen immer noch. Sie begriffen nicht, wieso. Das ewige Nachdenken laugte sie nicht weniger aus als das Dastehen und Warten und der Hunger.
    Sie waren so hungrig, dass sie stundenlang ihre Angst vergaßen. Einer der Männer – nicht der Mörder, der andere – brachte ihnen morgens auf einem Tablett vier Scheiben Bauernbrot mit Margarine und ein Glas süßen, nach Plastik schmeckenden Orangensaft. Der Mann hatte einen dunklen Schnurrbart, dunkelbraune Haare, die fast so kurz geschoren waren wie die von Conrad, und einen starren, unnahbaren Blick.
    Der Mann trug keine Brille, keine Maske, die Jugendlichen mussten sich jetzt auch nicht mehr umdrehen, wenn er die Tür aufsperrte. Sie durften ihn ansehen, während sie im Stehen aßen und er an der Tür wartete, die Hände mit dem Tablett hinter dem Rücken, den Blick reglos auf die Wand gerichtet. Wenn sie aufgegessen und ausgetrunken hatten, stellten sie die Gläser zurück aufs Tablett, und der Mann nahm einen von ihnen mit. Die übrigen drei blieben weiter vor der Wand stehen, bis die zwei Stunden vorüber waren.
    Der Mann kam jeden Tag gegen zehn Uhr.
    Und jeden Tag sehnte Conrad ihn herbei. Weil er endlich sterben wollte, wie Noah, wie Eike. Und weil er die Gegenwart der anderen, die er für Lügner und Verräter hielt, nicht mehr ertrug. Aus Feigheit und Furcht, davon war er überzeugt, spielten sie ein Spiel mit den Mördern und glaubten, auf diese Weise davonzukommen. Aber sie würden genauso enden wie Eike und Noah, nur dümmer, weil sie sich selbst betrogen hatten.
    Als Einziger war Conrad seither nicht mehr nach oben geholt worden, und er wusste auch, wieso: Die anderen hatten einen Pakt mit den Mördern geschlossen und wurden nicht mehr gequält und misshandelt. Es sah jedenfalls nicht so aus, dachte Conrad jedes Mal, wenn Leon, Maren oder Sophia zurückkamen und sich an den Tisch setzten und nicht, wie all die Wochen zuvor, im Bad oder unter der Matratzendecke verschwanden und leise wimmerten. Sie taten nur so, als ginge es ihnen schlecht. In Wahrheit schämten sie sich bloß und verbargen ihr Gesicht vor ihm. Conrad hasste sie dafür.
    Während die Mörder die drei Verräter in Ruhe ließen, gaben sie ihm, Conrad, zu

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