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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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Sichel des Mondes und ein paar schwache Sterne, als hätte jemand eine Handvoll Diamantenstaub in die Dunkelheit geworfen. Die Mondkönigin, umgeben vom Haufen aller ihrer Sternenfeen. Sie nahm an, dass Keats über einen Vollmond geschrieben hatte, und der Mond über der Argyll Road wirkte eher wie ein Mond in Wartestellung. Sie war in – eher armseliger – poetischer Stimmung. Es war die Ungeheuerlichkeit des Krieges, dachte sie, die einen nach Möglichkeiten suchen ließ, darüber nachzudenken.
    Bridget sagte immer, dass es Unglück brachte, den Mond durch Glas anzuschauen, und Ursula schob das Papier zurück und zog die Vorhänge zu.
    Ralph war nachlässig, was seine Sicherheit anging. Nach Dünkirchen, sagte er, fühle er sich vor einem plötzlichen gewaltsamen Tod gefeit. Ursula dagegen schien, dass sich die Chancen in Kriegszeiten, wenn man von einer ungeheuren Menge plötzlicher gewaltsamer Todesfälle umgeben war, stark veränderten und es unmöglich war, vor irgendetwas gefeit zu sein.
    Wie sie es vorausgesehen hatte, setzte die Katzenmusik ein, kurz darauf gefolgt vom Geschützfeuer aus dem Hyde Park und dem Geräusch der ersten Bomben. So wie es sich anhörte, schlugen sie bei den Docks ein. Sie reagierte sofort, nahm die Taschenlampe vom Haken neben der Tür, wo sie wie eine heilige Reliquie hing, und ihr Buch, das ebenfalls neben der Tür lag. Es war ihr »Schutzraumbuch« – Du côté de chez Swann. Jetzt, da der Krieg ewig zu dauern schien, hatte Ursula beschlossen, dass sie anfangen könnte, Proust zu lesen.
    Die Flugzeuge heulten am Himmel, und dann hörte sie das furchterregende Swisch einer fallenden Bombe und anschließend das unbarmherzige Wumm!, als sie irgendwo in der Nähe detonierte. Manchmal klang eine Explosion viel näher, als sie tatsächlich war. (Wie schnell man neues Wissen in den unwahrscheinlichsten Fächern erwarb.) Sie schaute sich nach ihrem Schutzraumanzug um. Sie trug für die Jahreszeit nur ein ziemlich dünnes Kleid, und im Keller war es schrecklich kalt und feucht. Den Schutzraumanzug hatte Sylvie gekauft, die einen Tag in die Stadt gekommen war, kurz bevor die Bombardierungen begannen. Sie waren die Piccadilly entlanggeschlendert, und Sylvie war im Schaufenster von Simpson’s eine Anzeige für »maßgeschneiderte Schutzraumanzüge« aufgefallen, und sie hatte darauf bestanden, dass sie hineingingen und sie anprobierten. Ursula konnte sich ihre Mutter weder in einem Schutzraum noch in einem Schutzraumanzug vorstellen, aber es war ganz eindeutig ein Kleidungsstück, eine Uniform sogar, die Sylvie gefiel. »Ideal, um den Hühnerstall auszumisten«, sagte sie und kaufte einen für Ursula und einen für sich.
    Die nächste massive Explosion rief zur Eile, und Ursula gab die Suche nach dem verflixten Anzug auf und nahm stattdessen die Decke aus wollenen Quadraten, die Bridget gehäkelt hatte. (»Ich wollte sie einpacken und dem Roten Kreuz schicken«, hatte Bridget mit ihrer runden Schulmädchenhandschrift geschrieben, »aber dann habe ich gedacht, dass Du sie vielleicht dringender brauchst.«
    »Wie Du siehst, habe ich auch in meiner Familie den Status eines Flüchtlings«, schrieb Ursula an Pamela.)
    Auf der Treppe begegneten ihr die Nesbit-Schwestern. »Oh, das bringt Unglück, Miss Todd«, sagte Lavinia und kicherte. »Sich auf der Treppe in entgegengesetzter Richtung über den Weg laufen.«
    Ursula ging hinunter, die Schwestern waren unterwegs nach oben. »Sie gehen in die falsche Richtung«, sagte sie sinnloserweise.
    »Ich habe mein Strickzeug vergessen«, sagte Lavinia. Sie trug eine Emailbrosche in Form einer schwarzen Katze. Ein winziger Strassstein funkelte als Auge. »Sie strickt eine Strampelhose für Mrs. Appleyards Baby«, sagte Ruth. »In ihrer Wohnung ist es so kalt.« Ursula fragte sich, wie viele Schichten gestrickter Kleidung dem armen Kind noch übergestreift werden mussten, bis es aussah wie ein Schaf. Nicht wie ein Lämmchen. Das Appleyard-Baby hatte nichts Lämmchenhaftes. Emil, sagte sie sich.
    »Na, dann beeilen Sie sich«, sagte sie.

    »Hallo, hallo, alle da«, sagte Mr. Miller, als sie einer nach dem anderen in den Keller marschierten. Ein bunt zusammengewürfeltes Sortiment von Stühlen und Bettzeug füllte den feuchten Raum. Es standen zwei alte Militärfeldbetten herum, die Mr. Miller irgendwo abgestaubt hatte, und die Nesbits wurden stets überredet, ihre alten Knochen darauf zu lagern. Da die beiden Schwestern noch nicht da waren, hatte

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