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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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verteilte »Erfrischungen«, Tee, Kakao, Kekse, Brot und Margarine. Die Millers, eine Familie mit großzügigen Moralvorstellungen, verfügten immer über genügend Lebensmittel dank ihrer ältesten Tochter Renee, die »Verbindungen« hatte. Renee war achtzehn und in jeder Beziehung ausgewachsen und schien eine überaus lockere Auffassung von Tugendhaftigkeit zu haben. Miss Hartnell stellte klar, dass Renee in der Tat sehr zu wünschen übrig ließ, obwohl sie nichts dagegen hatte, sich an den Vorräten gütlich zu tun, die das Mädchen nach Hause brachte. Ursula hatte den Eindruck, dass eins der kleineren Miller-Kinder von Renee und nicht von Mrs. Miller war und auf pragmatische Weise in die Familie eingegliedert worden war.
    Renees »Verbindungen« waren unklar, doch ein paar Wochen zuvor hatte Ursula sie im Café im ersten Stock des Charing Cross Hotels gesehen, wie sie anmutig an einem Gin nippte in Begleitung eines schnittigen und wohlhabend aussehenden Mannes, dem »Gauner« ins Gesicht geschrieben stand.
    »Das ist ein schmieriger Bursche, so ich je einen gesehen habe«, hatte Jimmy gesagt und gelacht. Jimmy, das Baby, das gezeugt worden war, um den Frieden nach dem Krieg zu feiern, der alle Kriege beenden sollte, würde bald in den nächsten Krieg ziehen. Er war noch in der Ausbildung und hatte ein paar Tage Urlaub, und sie hatten sich ins Charing Cross Hotel geflüchtet, während eine nicht explodierte Bombe in der Strand entschärft wurde. Sie konnten die Marinegeschütze hören, die auf Wagen zwischen Vauxhall und Waterloo stationiert waren – bumm-bumm-bumm  –, doch die Bomber suchten nach anderen Zielen und flogen weiter. »Hört das denn nie auf?«, fragte Jimmy.
    »Offenbar nicht.«
    »In der Armee ist es sicherer.« Er lachte. Er war als gemeiner Soldat zur Armee gegangen, obwohl man ihm ein Offizierspatent angeboten hatte. Er wolle einer vom Fußvolk sein, sagte er. (»Aber jemand muss doch Offizier werden, oder?«, wunderte sich Hugh. »Besser, wenn es jemand ist, der ein bisschen intelligent ist.«)
    Er wollte es erleben. Er wollte Schriftsteller werden, und was war besser als ein Krieg, um ihm die Höhen und Tiefen der condition humaine vorzuführen. »Schriftsteller?«, sagte Sylvie. »Ich fürchte, die böse Fee hat seine Wiege geschaukelt.« Ursula vermutete, dass sie Izzie meinte.
    Es war vergnüglich gewesen mit Jimmy. Jimmy sah flott aus in seiner Felduniform und wurde eingelassen, wohin immer sie gingen – nicht salonfähige Lokalitäten in der Dean Street und der Archer Street, das Bœuf sur le Toit in der Orange Street, das in der Tat sehr risqué war (wenn nicht gar riskant), und Ursula wunderte sich über Jimmy. Alles mit dem Ziel, die condition humaine zu erkunden, sagte er. Sie waren schließlich sehr betrunken und ein wenig albern, und es war eine Erleichterung, nicht in Mr. Millers Keller kauern zu müssen. »Versprich mir, dass du nicht sterben wirst«, sagte sie zu Jimmy, als sie sich wie ein blindes Paar die Haymarket entlangtasteten und hörten, wie ein anderer Teil Londons von der Erdoberfläche gebombt wurde.
    »Ich werde mein Bestes tun«, sagte Jimmy.

    Ihr war kalt. Durch das Wasser, in dem sie lag, wurde ihr noch kälter. Sie musste sich bewegen. Konnte sie sich bewegen? Offenbar nicht. Wie lange lag sie schon hier? Zehn Minuten? Zehn Jahre? Die Zeit stand still. Alles schien stillzustehen. Nur die widerliche Geruchsmischung war noch da. Sie war im Keller. Das wusste sie, weil sie Seifenblasen sehen konnte, das wie durch ein Wunder noch immer an einem Sandsack neben ihrem Kopf klebte. Würde sie sterben und dieses banale Bild dabei ansehen? Dann erschien ihr die Banalität plötzlich willkommen, als eine grausige Vision neben ihr auftauchte. Ein schrecklicher Geist, schwarze Augen in einem grauen Gesicht, umgeben von wild zerzaustem Haar, packte sie. »Haben Sie mein Baby gesehen?«, sagte der Geist. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis Ursula begriff, dass es kein Geist war. Es war Mrs. Appleyard, ihr Gesicht von Schmutz und Staub bedeckt und von Streifen aus Blut und Tränen gezeichnet. »Haben Sie mein Baby gesehen?«, fragte sie noch einmal.
    »Nein«, flüsterte Ursula, ihr Mund trocken von dem Dreck, der heruntergefallen war. Sie schloss die Augen, und als sie sie wieder öffnete, war Mrs. Appleyard verschwunden. Vielleicht hatte sie es sich nur eingebildet, vielleicht war sie nicht bei Sinnen. Oder aber es war doch der Geist von Mrs. Appleyard gewesen,

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