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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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hatte er auf so einem Hof gearbeitet.)
    Teddy schrieb noch immer Gedichte, und Hugh sagte: »Ein dichtender Bauer, hm? Wie Vergil. Wir erwarten eine neue Georgica von dir.« Ursula fragte sich, wie sich Nancy als Frau eines Bauern fühlte. Sie war fürchterlich intelligent, forschte in Cambridge zu einem obskuren und komplizierten Aspekt der Mathematik. (»Das ist alles Kauderwelsch für mich«, sagte Teddy.) Und dann war plötzlich und unerwartet sein Kindheitstraum, Pilot zu werden, in greifbare Nähe gerückt. Im Augenblick war er in Kanada in Sicherheit, wo er in einem Ausbildungslager des Empire das Fliegen lernte und nach Hause schrieb, wie viel es zu essen gab und wie schön das Wetter war. Ursula wurde grün vor Neid. Sie wünschte, er könnte für immer dort bleiben.

    »Wie sind wir darauf gekommen, über kaltblütigen Kindsmord zu reden?«, sagte Ursula zu Ralph. »Na ja.« Sie neigte den Kopf der Wand und dem Auf und Ab von Emils Sirenengeheul zu.
    Ralph lachte. »Heute Abend ist er gar nicht so schlimm. Aber ich würde verrückt, wenn meine Kinder so einen Krach veranstalteten.«
    Ursula fand es interessant, dass er »meine Kinder« und nicht »unsere Kinder« gesagt hatte. Seltsam, überhaupt daran zu denken, Kinder zu bekommen, wenn die Existenz der Zukunft großem Zweifel unterlag. Sie stand etwas abrupt auf und sagte: »Die Angriffe werden bald anfangen.« Zu Beginn des »Blitz« hätte sie gesagt: »Sie können nicht jede Nacht kommen«, jetzt wussten sie, dass sie es konnten. (»Wird das Leben ewig so sein«, schrieb sie an Teddy, »dass uns pausenlos die Bomben zusetzen?«) Jetzt waren es sechsundfünfzig Nächte in Folge, und allmählich schien es durchaus möglich, dass es wirklich nie zu Ende gehen würde.
    »Du bist wie ein Hund«, sagte Ralph. »Du hast den sechsten Sinn für die Bomber.«
    »Na, dann glaubst du mir besser und gehst jetzt. Oder du wirst in das schwarze Loch von Kalkutta hinuntersteigen müssen, und du weißt, dass dir das nicht gefallen wird.« Die ausufernde Familie Miller – Ursula hatte mindestens vier Generationen gezählt – bewohnte das Erdgeschoss und das Souterrain in der Argyll Road. Sie hatten zudem Zugang zu einer tieferen Ebene, einem unterirdischen Keller, den die Hausbewohner als Luftschutzkeller benutzten. Es war ein Labyrinth, ein schimmliger, unangenehmer Ort voller Spinnen und Käfer, und es war schrecklich eng, wenn sie alle dort unten waren, vor allem nachdem der Hund der Millers, ein formloser Fellteppich namens Billy, sich widerwillig die Treppe hatte hinunterzerren lassen. Sie mussten natürlich auch das tränenreiche Wehklagen von Emil ertragen, der unter den Bewohnern herumgereicht wurde wie ein unerwünschtes Paket in dem vergeblichen Versuch, ihn zu beruhigen.
    Mr. Miller hatte in dem Bemühen, den Keller »gemütlich« zu gestalten (was er nie sein würde), ein paar Reproduktionen »großer englischer Kunst«, wie er es nannte, an die mit Sandsäcken geschützten Wände geklebt. Diese Farbabbildungen – Constables Der Heuwagen, Gainsboroughs Mr. und Mrs. Andrews (wie selbstgefällig sie dreinblickten) und Seifenblasen (Ursulas Ansicht nach der schwächste Millais überhaupt) – sahen verdächtig danach aus, als wären sie aus teuren Kunstbänden herausgerissen. »Kultur«, sagte Mr. Miller und nickte weise. Ursula fragte sich, was sie als »große englische Kunst« gewählt hätte. Turner vielleicht, die verschwommenen, flüchtigen späten Werke. Sie vermutete, dass sie den Geschmack der Millers damit nicht getroffen hätte.

    Sie hatte den Kragen an ihre Bluse genäht. Sie hatte den Sturm und Drang im Radio ausgeschaltet und stattdessen Ma Raineys »Yonder Comes the Blues« gehört – das Gegengift zu all den simplen Rührseligkeiten, die das Radio auszustrahlen begann. Und sie hatte mit Ralph Brot und Käse gegessen, sich an dem Kreuzworträtsel versucht und ihn dann mit einem Kuss nach Hause geschickt. Sie hatte das Licht gelöscht und das schwarze Papier beiseitegeschoben, damit sie ihm nachsehen konnte, wie er in der Argyll Raod davonging. Trotz seines Hinkens (oder vielleicht gerade deswegen) hatte er einen schwungvollen Gang, als rechnete er damit, dass ihm etwas Interessantes über den Weg laufen würde. Es erinnerte sie an Teddy.
    Er wusste, dass sie ihm nachsah, blickte jedoch nicht zurück, sondern hob den Arm zu einem wortlosen Gruß und wurde dann von der Dunkelheit verschluckt. Aber etwas Licht gab es doch, die helle

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