Die Unvollendete: Roman (German Edition)
Frage stellte. » Wie Roland für Oliver? Wie wäre es mit ›Paladin‹?«, sagte sie. »Was meinst du?«
Gestern war etwas Seltsames passiert. Sie saß in der U-Bahn, sie mochte die U-Bahn nicht, vor den Bombardierungen war sie jeden Tag mit dem Rad gefahren, aber da so viel Glas und Schutt herumlagen, wurde es immer schwieriger. Sie hatte das Kreuzworträtsel im Telegraph gemacht und sich eingeredet, sie befände sich nicht unter der Erde. Die meisten Menschen fühlten sich unter der Erde sicherer, aber Ursula gefiel es nicht, eingesperrt zu sein. Ein paar Tage zuvor war eine Bombe in einen U-Bahn-Eingang gefallen, die Explosion hatte sich bis in die Tunnel ausgebreitet, mit schrecklichen Folgen. Sie wusste nicht, ob in den Zeitungen darüber berichtet worden war, diese Dinge waren schlecht für die Moral.
In der Bahn neigte sich der Mann, der neben ihr saß, plötzlich zu ihr – sie wich zurück –, schaute auf ihr halb gelöstes Rätsel und sagte: »Sie sind ziemlich gut. Darf ich Ihnen meine Karte geben? Schauen Sie in meinem Büro vorbei, wenn Sie möchten. Ich rekrutiere schlaue Mädchen.« Das glaube ich sofort, dachte sie. Er stieg in Green Park aus, lüpfte leicht den Hut. Auf der Karte stand zwar eine Adresse in Whitehall, doch sie hatte sie weggeworfen.
Ralph schüttelte zwei Zigaretten aus dem Päckchen und zündete sie an. Er reichte ihr eine und sagte: »Du bist ziemlich schlau.«
»Ziemlich«, sagte sie. »Deswegen arbeite ich in der Informationsabteilung und du mit den Karten.«
»Ha, ha, schlau und witzig.«
Sie hatten einen lockeren, kameradschaftlichen Umgang miteinander, mehr wie Freunde und nicht wie ein Liebespaar. Sie respektierten sich und stellten wenig Ansprüche. Es kam ihnen zugute, dass sie beide im selben Ministerium arbeiteten. Es gab viele Dinge, die sie sich gegenseitig nicht erklären mussten.
Er berührte ihre Hand und fragte: »Wie geht es dir?«, und sie sagte: »Sehr gut, danke.« Seine Hände waren noch immer die des Architekten, der er vor dem Krieg gewesen war, nicht gezeichnet von Kampfeinsätzen. Er war weit weg von den Kämpfen gewesen, ein Sachverständiger bei den Royal Engineers, hatte über Landkarten und Fotos gebrütet und nicht damit gerechnet, eingezogen zu werden, durch schmutziges, öliges, blutiges Meerwasser waten zu müssen und von allen Seiten beschossen zu werden. (Er hatte schließlich doch ein bisschen mehr erzählt.)
Obwohl die Bombardierungen schrecklich seien, könnte etwas Gutes daraus entstehen, sagte er. Er hatte (im Gegensatz zu Hugh oder Crighton) Hoffnung für die Zukunft. »Alle diese armseligen Bruchbuden«, sagte er. Woolwich, Silvertown, Lambeth und Limehouse wurden zerstört und müssten nach dem Krieg neu aufgebaut werden. Es sei eine gute Gelegenheit, sagte er, um saubere, moderne Häuser mit allen Annehmlichkeiten zu errichten – Glas und Stahl und Luft am Himmel statt viktorianischer Elendsquartiere. »Eine Art San Gimignano der Zukunft.«
Ursula war von seiner Vision modernistischer Türme nicht überzeugt, wenn es nach ihr ginge, würde sie die Zukunft als Gartenstädte bauen, gemütliche kleine Häuser mit kleinen Gärten. »Was für eine alte Tory du bist«, sagte er liebevoll.
Doch er liebte auch das alte London (»Welcher Architekt würde das nicht?«) – die Kirchen von Wren, die prächtigen Häuser und die eleganten öffentlichen Gebäude –, »die Steine von London«, sagte er. Ein- oder zweimal in der Woche war er zur Nachtwache in St. Paul’s eingeteilt, die Männer waren bereit, »wenn nötig« ins Dachgebälk hinaufzuklettern, um die große Kirche vor Brandbomben zu schützen. Die Kirche sei eine Feuerfalle, sagte er – altes Holz, überall Blei, flache Dächer, viele Treppen und vergessene dunkle Orte. Er hatte auf eine Anzeige in der Zeitschrift der Königlichen Architektenkammer reagiert, in der Architekten gesucht wurden, die sich freiwillig als Brandwachen meldeten, »weil sie die Pläne verstehen und so«. »Vielleicht werden wir ziemlich schnell sein müssen«, sagte er, und Ursula fragte sich, wie er das mit seinem Hinken schaffen wollte. Sie stellte ihn sich von Flammen eingeschlossen auf den Treppen und an den vergessenen dunklen Orten vor. Die Nachtwachen verliefen offenbar recht freundschaftlich – sie spielten Schach und führten lange Gespräche über Philosophie und Religion. Sie glaubte, dass es Ralph sehr zupass kam.
Erst ein paar Nächte zuvor hatten sie beide gebannt und entsetzt
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