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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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und sie waren beide in einer trostlosen Vorhölle gefangen.
    Lavinia Nesbits Kleid, das von der Bilderschiene der Millers hing, erregte erneut ihre Aufmerksamkeit. Aber es war nicht Lavinia Nesbits Kleid. In den Ärmeln eines hängenden Kleids steckten normalerweise keine Arme. Arme mit Händen. Etwas an dem Kleid zwinkerte Ursula zu, ein kleines Katzenauge, das das Mondlicht eingefangen hatte. Es war der kopflose, beinlose Körper von Lavinia Nesbit, der an der Bilderschiene der Millers hing. Es war so absurd, dass sich ein Lachen in Ursula anbahnte. Es brach nie aus ihr heraus, denn etwas bewegte sich – ein Balken, ein Stück Mauer –, und puderfeiner Staub regnete auf sie herab. Ihr Herz pochte unkontrollierbar. Es schmerzte, eine Zeitzünderbombe, die darauf wartete zu explodieren.
    Zum ersten Mal verspürte sie Panik. Niemand kam, um ihr zu helfen. Ganz bestimmt nicht der wahnsinnige Geist von Mrs. Appleyard. Sie würde allein im Keller der Argyll Road sterben, in Gesellschaft von Seifenblasen und der kopflosen Lavinia Nesbit. Wenn Hugh hier wäre oder Teddy oder Jimmy oder auch Pamela, würden sie alles tun, um sie hier herauszuholen, sie zu retten. Sie liebten sie. Aber hier war niemand, der sie liebte. Sie hörte sich wimmern wie eine verletzte Katze. Wie leid sie sich tat, als wäre sie jemand anders.

    Mrs. Miller hatte gesagt: »Ich glaube, eine heiße Tasse Kakao würde uns allen guttun.« Mr. Miller sorgte sich wieder um die Nesbits, und Ursula, die die Enge des Kellers nicht länger aushielt, sagte: »Ich gehe nach ihnen schauen«, und stand von dem wackligen Stuhl auf, als ein Swisch und Phiee die Ankunft einer Bombe verkündete. Es folgte ein gigantischer Donnerschlag, ein nie gehörtes Krachen, als die Mauer der Hölle plötzlich barst und alle Teufel herausstürmten, und dann kam der ungeheure Sog und Druck, als würden ihr Inneres, ihre Lunge, ihr Herz und ihr Magen, sogar ihre Augäpfel aus ihrem Körper gesaugt. Grüße den letzten und immerwährenden Tag. Das war’s, dachte sie. So werde ich sterben.

    Eine Stimme durchbrach die Stille, geradezu neben ihrem Ohr, eine Männerstimme, die sagte: »Kommen Sie, Miss, wir wollen versuchen, Sie rauszuholen.« Ursula sah sein Gesicht, schmutzig und verschwitzt, als hätte er sich zu ihr durchgegraben. (Sie nahm an, dass er es tatsächlich getan hatte.) Zu ihrer Überraschung kannte sie ihn. Es war einer der Luftschutzhelfer des Viertels, ein neuer.
    »Wie heißen Sie, Miss? Können Sie mir das sagen?« Ursula murmelte ihren Namen, aber sie merkte, dass er nicht richtig herauskam. »Urry?«, fragte er. »Was bedeutet das – Mary? Susie?«
    Sie wollte nicht als Susie sterben. Aber war es wichtig?
    »Baby«, murmelte sie.
    »Baby?«, sagte er laut. »Sie haben ein Baby?« Er wich ein Stück zurück und rief jemand Unsichtbarem etwas zu. Sie hörte andere Stimmen, und ihr wurde klar, dass jetzt viele Leute hier waren. Als wollte er es bestätigen, sagte der Mann: »Wir sind alle hier, um Sie rauszuholen. Das Gas ist abgestellt worden, und in null Komma nichts haben wir Sie hier raus. Machen Sie sich keine Sorgen. Jetzt erzählen Sie mir von Ihrem Baby, Susie. Haben Sie es gehalten? Ist es noch ganz klein?« Ursula dachte an Emil, schwer wie eine Bombe (Wer hielt ihn in den Armen, als alles stillstand und das Haus in die Luft flog?), und wollte etwas sagen, doch sie wimmerte wieder.
    Etwas krächzte und knarzte über ihr, und der Mann hielt ihre Hand und sagte: »Alles in Ordnung, ich bin da«, und sie war ihm und allen, die sich mühten, sie zu befreien, unglaublich dankbar. Sie dachte, wie dankbar Hugh wäre. Beim Gedanken an ihren Vater begann sie zu weinen, und der Mann sagte: »Ist ja gut, Susie, alles in Ordnung, gleich haben wir Sie hier raus wie eine Strandschnecke aus ihrem Haus. Und dann gibt’s eine schöne Tasse Tee. Wie klingt das? Gut, was? Hätte selbst auch gern eine.«

    Es schien zu schneien, winzige eisige Nadelstiche auf ihrer Haut. »So kalt«, murmelte sie.
    »Keine Sorge, wir haben Sie hier raus, bevor das Lämmchen zweimal mit dem Schwanz wackelt, Sie werden schon sehen«, sagte der Luftschutzhelfer. Er kämpfte sich aus dem Mantel, den er trug, und legte ihn über sie. Der Platz reichte nicht für ein so großzügiges Manöver, und er stieß gegen etwas, und ein Schauer Schutt regnete auf sie beide herab.
    »Oh«, sagte sie zu dem Mann, weil ihr plötzlich speiübel war, doch es ging vorüber, und sie beruhigte sich.

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