Die Unvollendete: Roman (German Edition)
sah zu, wie Bosun und Ursula den über Bord gegangenen Zucker einsammelten, Bosun mit seiner großen rosa Zunge, Ursula exzentrischerweise mit der knifflig zu handhabenden Zuckerzange. Bosun verschluckte die Stücke, ohne zu kauen. Ursula lutschte den Zucker langsam, ein Stück nach dem anderen. Sylvie mutmaßte, dass Ursula diejenige war, die aus dem Rahmen fiel. Selbst ein Einzelkind, war sie häufig verwirrt von den komplexen geschwisterlichen Beziehungen zwischen ihren Kindern.
»Du solltest mal nach London kommen«, sagte Margaret unvermittelt. »Ein paar Tage bei mir bleiben. Wir könnten großen Spaß haben.«
»Aber die Kinder«, sagte Sylvie. »Das Baby. Ich kann sie nicht allein lassen.«
»Warum nicht?«, sagte Lily. »Dein Kindermädchen kann sich doch ein paar Tage um sie kümmern, oder?«
»Aber ich habe kein Kindermädchen«, sagte Sylvie. Lily schaute sich im Garten um, als suchte sie ein zwischen den Hortensien lauerndes Kindermädchen. »Und ich will auch keins«, fügte Sylvie hinzu. (Oder doch?) Die Mutterschaft war ihre Verantwortung, ihr Schicksal. Und da sie sich sonst nicht betätigte (und was hätte sie tun sollen?), war sie ihr Leben. Englands Zukunft klammerte sich an Sylvies Brust. Sie zu ersetzen war kein sorgloses Unterfangen, als würde ihre Abwesenheit kaum mehr bedeuten als ihre Anwesenheit. »Und ich stille das Baby selbst«, sagte sie. Beide Frauen wirkten überrascht. Lily legte unwillkürlich eine Hand an den eigenen Busen, als wollte sie ihn vor einem Angriff schützen.
»Das hat Gott so vorgesehen«, sagte Sylvie, obwohl sie seit dem Verlust von Tiffin nicht mehr an Gott glaubte. Hugh rettete sie, indem er wie ein Mann mit einem Ziel vor Augen über den Rasen schritt. Er lachte und sagte: »Was ist denn hier los?«, hob Ursula hoch und warf sie lässig in die Luft, bis sie an einem Stück Zucker zu würgen begann. Er lächelte Sylvie an und sagte: »Deine Freundinnen«, als hätte sie vergessen, wer sie waren.
»Freitagabend«, sagte Hugh und stellte Ursula auf dem Rasen ab, »die Mühen des arbeitenden Mannes sind vorbei, und ich glaube, es ist Zeit, den Abend einzuläuten. Würden die reizenden Damen gern etwas Stärkeres als Tee zu sich nehmen? Gin Slings vielleicht?« Hugh hatte vier jüngere Schwestern und fühlte sich wohl in Gesellschaft von Frauen. Allein das reichte aus, um sie zu bezaubern. Sylvie wusste, dass er beschützen, nicht verführen wollte, doch gelegentlich staunte sie über seine Beliebtheit und fragte sich, wohin sie führen würde. Oder bereits geführt hatte.
Zwischen Maurice und Pamela wurde ein Waffenstillstand ausgehandelt. Sylvie bat Bridget, einen Tisch auf die kleine, aber nützliche Terrasse zu ziehen, so dass die Kinder im Freien zu Abend essen konnten – Heringrogen auf Toast und ein rosa Etwas, das kaum fest geworden war und hemmungslos wabbelte. Bei seinem Anblick wurde Sylvie leicht mulmig. »Kinderessen«, sagte Hugh genüsslich und sah seinen Kindern beim Essen zu.
»Österreich hat Serbien den Krieg erklärt«, sagte Hugh beiläufig, und Margaret sagte: »Wie dumm. Ich habe letztes Jahr eine wunderbare Woche in Wien verbracht. Im Hotel Imperial, kennt ihr es?«
»Nicht persönlich«, sagte Hugh.
Sylvie kannte es, sagte es aber nicht.
Der Abend wurde federweich. Sylvie, die auf einem Dunst aus Alkohol dahintrieb, erinnerte sich plötzlich an das cognacbedingte Ableben ihres Vaters und klatschte in die Hände, als wollte sie eine lästige kleine Fliege totschlagen, und sagte: »Zeit, ins Bett zu gehen, Kinder.« Sie sah zu, wie Bridget den schweren Kinderwagen unbeholfen über den Rasen schob. Sylvie seufzte, und Hugh half ihr aus dem Stuhl und küsste sie auf die Wange, als sie stand.
Sylvie öffnete das kleine Oberlicht im stickigen Zimmer des Babys. Sie nannten es »Babyzimmer«, aber es war kaum mehr als eine kleine, unter den Giebel gestopfte Kammer, stickig im Sommer und eiskalt im Winter und deswegen völlig ungeeignet für ein zartes Kleinkind. Wie Hugh glaubte Sylvie daran, Kinder früh abhärten zu müssen, damit sie später die Schläge des Lebens besser wegsteckten. (Den Verlust eines hübschen Hauses in Mayfair, eines geliebten Ponys, des Glaubens an eine allwissende Gottheit.) Sie saß auf dem samtbezogenen Stillstuhl und gab Edward die Brust. »Teddy«, murmelte sie liebevoll, während er sich in einen satten Schlaf schluckte und prustete. Als Babys liebte Sylvie sie am meisten, wenn sie schimmerten und neu
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