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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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betrachte ihn. Das fleckige Muster des dunklen Bilderjaspis beruhigt mich ein wenig.
    Die Zeiger der Uhr über dem Tresen wandern stetig weiter.
    Dann, nach Stunden, öffnet sich endlich die Tür. Dicke Schneeflocken werden in den Raum geweht, Gäste lamentieren lauthals, weil sie die eisige Luft stört, die mit dem einsamen Wanderer das Pub betritt. Ich schaue von meinem Stein auf, und da ist sie.
    Emily Laing steht im Türrahmen und versucht, das rauchgeschwängerte Dämmerlicht des Pubs zu durchdringen.
    Sie sucht uns, findet uns an dem Platz in der hintersten Ecke, den wir als Treffpunkt vereinbart haben. Als sie auf uns zukommt, bemerke ich, wie merkwürdig die anderen Gäste das Kind anstarren.
    »Ich bin wieder da«, sagt sie und lässt sich müde auf einem der Stühle nieder.
    Dort, wo vormals das Glasauge gewesen ist, klafft nun ein tiefes Loch. Vorsichtig berührt sie die leere Augenhöhle mit dem Finger und sieht uns mit ihrem gesunden Auge an. Es ist ihr peinlich, sich so zeigen zu müssen. Mehr noch. Sie fühlt sich verletzt und vor den Menschen bloßgestellt.
    Dann lässt sie uns an ihrer Geschichte teilhaben.
    Nie hätte sich Emily Laing träumen lassen, welch Furcht einflößende Gestalten Engel sein können. Wie man es ihr aufgetragen hatte, war sie dem Engel aus London in die uralte Metropole hinab gefolgt.
    Rahel, der die Lieder Irving Berlins auf seiner Klarinette gespielt hatte, bemerkte seine Verfolgerin bereits auf den Stufen der Rolltreppe. Doch sprach er sie nicht sofort an. Stattdessen wartete er ab, wie weit sie ihm folgen würde. Als Engel und Emily das Portal erreicht und den Gatekeeper verabschiedet hatten, fragte er sie nach ihrem Begehr.
    »Ich suche Lord Uriel«, erklärte Emily mit ruhiger Stimme, ganz so, wie man es ihr aufgetragen hatte.
    »Das tun viele«, gab Rahel zur Antwort.
    Emily erkannte das Feuer in seinen Augen. Es war das gleißende Licht der Sonne, das seine Pupillen in ein Flammenmeer verwandelte. So sehr brannte sein Blick auf dem kleinen Mädchen, dass es die Augen senkte. Emily wusste nicht, welche Meinung der Engel von ihr hatte. Sie wusste nicht einmal, ob sie von ausreichendem Interesse für ihn war, dass er überhaupt über sie nachdachte.
    Schließlich sagte er: »Folgen Sie mir!«
    Was Emily tat.
    So gelangte sie zur Heimstätte der Lichtengel.
    »Dies ist Oxford Circus«, tönte Rahels Stimme, als sie eintraten, »der Himmel der Urieliten.«
    Der Himmel war einer riesigen Höhle gleich. An den Wänden und Decken hingen runde, leuchtende Gebilde, die sich wie lebendige Kokons aus dem massiven Felsgestein herausschälten. Runde Öffnungen befanden sich in den Kokons, aus denen ein warmes und zugleich Angst einflößendes Licht drang.
    »
Aleph vau resh yod aleph lamed
«, rief Rahel in diesen Raum von unermesslicher Weite hinein.
    Die Engel, die zwischen den Kokons in der Luft schwebten, blickten neugierig und in ihrer Ruhe gestört nach unten zum Boden, wo sie ihren Bruder in Begleitung eines Menschenkindes erblickten. Mächtige Schwingen hielten die stolzen Geschöpfe in den lichtumfluteten Höhen. Aus den Öffnungen an den Unterseiten der Kokons ergossen sich weitere Engel in die Lüfte, bis der gesamte Himmel voll von ihnen war. Sie bewegten sich wie Wespen, krochen fledermausartig mit angelegten Flügeln über die Kokons. Ihre Gesichtszüge waren streng und beklemmend. Viele der Gesichter und Körper waren mit bunten Schriftzeichen bemalt, die Emily nie zuvor gesehen hatte.
    Dann schwebte ein großer Engel zu ihnen herab.
    »Ich bin Uriel«, sagte das Geschöpf und legte die Flügel an.
    Gerade als Emily den Mund öffnen wollte, gebot ihr der Engel zu schweigen.
    »Ich weiß, warum du hier bist«, sagte er, und ein Lächeln umspielte die Lippen, und dieses Lächeln war grauenhaft anzuschauen.
    Als Emily etwas erwidern wollte, unterband er es erneut.
    »Es ist weise, ein Kind zu schicken.« Lord Uriel beugte sich vor, und sein Gesicht kam dem des Mädchens ganz nah. Wenn er sprach, dann roch sein Atem nach brennendem Heu. »Kinder besitzen noch Licht in ihren Augen. Ein Licht, das heller scheint als das unsrige.« Kummer legte sich über das Gesicht des Engels. »Wir sahen schon so viel.« Mit dem Finger berührte er Emilys Augenbrauen. »Doch diese hier«, hauchte er. »Kinderaugen, so voller Licht.« Er lächelte erneut sein Engelslächeln. »Und erster Erinnerungen.«
    Sobald Emily die Lippen bewegen wollte, legte er den Finger darauf.
    »Sprich nicht

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