Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
zu begreifen versucht, was hier vor sich geht.
Der Elf hat nur eine Erklärung. »Lord Uriel will, dass wir es sehen.«
Gerade will Emily fragen, was er damit meint, als sie es mit eigenem Auge sieht.
Da unten, am Fuße der breiten Treppe, steht Master Lycidas.
Er trägt einen langen, schwarzen Mantel. Um seinen Hals ist ein dunkelroter Schal geschlungen, und ein Hut mit breiter Krempe ziert seinen Kopf. Neben ihm steht eine Frau unbestimmten Alters. Sie hat blondes Haar und außerordentlich helle Augen, und als sie Emily Laing sieht, zeigt sich der Anflug eines Wiedererkennens in ihrem Blick.
Das Mädchen hingegen ist nur zu einer einzigen Äußerung fähig. »Snowhitepink«, flüstert sie und kann kaum glauben, was sie da sieht.
Madame Snowhitepink ist die Gefährtin des Lichtlords?
»Das muss Mylady Lilith sein«, mutmaßt Maurice Micklewhite.
Ich stimme ihm kopfnickend zu.
Nur Emily wiederholt mit zitternden Lippen: »Die Person da unten ist Madame Snowhitepink. Ich kenne sie aus dem Waisenhaus. Sie ist eine gute Freundin von Reverend Dombey.«
Überrascht starren wir das Mädchen an. Ist es möglich, dass es eine Verbindung zum Waisenhaus gibt, die wir übersehen haben? Mylady Lilith ist von alters her die Gefährtin des Lichtlords. Jeder weiß davon. In den alten Schriften wird behauptet, dass sie die erste Frau im Paradies gewesen sei. Doch war sie von boshafter, heimtückischer Natur, und so vertrieb man sie von dort. Später dann traf sie auf die Schlange, die der Lichtlord war, und da Gleiches von Gleichem angezogen wird, entbrannten sie in Liebe zueinander. Zumindest wollen uns das die Überlieferungen weismachen.
»Wer ist sie?« Noch immer kann Emily es kaum glauben.
»Sie ist seine Gefährtin«, sagt der Elf. »Sie ist die Lichtlady.«
Im Himmel über uns ziehen sich neue Wolken zusammen, und ein feurig kalter Wind wird entfacht. Die Schneeflocken jedoch verharren bewegungslos in der Luft, und keiner der Menschen, die uns umgeben, sieht nach oben. Alle sind sie erstarrt und blicken mit leeren Augen ins Zeitlose.
Lycidas und Lilith haben uns mittlerweile erspäht.
Auch sie befinden sich nicht in der Zeitstarre.
Von oben erklingt Gesang, glasklar und wunderschön. Emily erkennt die Stimme wieder. Es ist Rahel, der da singt:
Heaven, I´m in heaven
And the cares that hung around me through the week
Seem to vanish like a gambler´s lucky streak
When we´re out together, dancing cheek to cheek.
Andere Engel stimmen in den Gesang mit ein, und dann sieht Emily die uralten Wesen, die ihren Himmel am Oxford Circus verlassen haben und wie Feuervögel auf die Erde herniederschweben, angeführt von ihrem Herrn, in dessen flammendem Antlitz das Glasauge eines kleinen Mädchens prangt.
»Uriel!«, ruft Lycidas überrascht aus. Furcht vibriert in seiner einst so machtvollen Stimme.
Lilith Snowhitepink, seine Gefährtin, ergreift den Arm des Lichtlords.
Die Urieliten bilden einen Kreis um die beiden Gefallenen.
Dance with me, I want my arms about you
I´ll carry you
To heaven
I´m in heaven.
Die Schneeflocken beginnen sich zu bewegen. Sie bilden einen Wirbel, der schneller und schneller wird. Das ohrenbetäubende Tosen der Schneeflocken vermischt sich mit den Stimmen der Urieliten, die nunmehr Worte in einer fremden Sprache singen.
Lycidas beginnt zu kreischen.
Lady Lilith faucht wütend.
Ihr geschminktes Gesicht verzerrt sich, wird zur Fratze.
Ein Engel stößt aus dem Dunkel des Himmels hernieder und packt die Gefährtin des Lichtlords. Ehe sich Lycidas versieht, steht er allein am Fuße der Treppe. Sein Mantel weht im stürmischen Wind, und verwirrt sucht er in dem Schneegestöber, das um ihn her losgebrochen ist, nach seiner Gefährtin. Doch die Engel haben sie bereits fortgebracht.
Dann fällt der tosende Schneesturm über den Lichtlord her. Lycidas fuchtelt unkontrolliert mit den Armen, doch kann er sich der Schneemassen nicht erwehren. Das wirbelnde Weiß umhüllt ihn, schließt seine Gestalt vollständig ein.
Mit einer Handbewegung befördert Lord Uriel den Schneewirbel die Treppe hinauf.
Dicht neben uns dringt der Strudel, in dessen Zentrum das Schreien und Fluchen des Lichtlords ungehört verhallt, durch das Portal, fegt das Hauptschiff entlang und steigt zur Kuppel empor.
Wir folgen dem Wirbel in die Kirche.
Auch hier stehen die Menschenmassen bewegungslos da, eingefroren in den Moment und unfähig zu sehen, was sich unseren Augen offenbart.
Lycidas wird emporgerissen.
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