Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
Vom Netzwerk:
mich schließlich.
    Nichts einfacher als das.
    »Wir begeben uns nach St. Paul’s.«

Kapitel 17
St. Paul’s
    Schon von der Themse aus sieht man die majestätische Kuppel mit dem Laternenturm, der sich gen Himmel reckt. Die beiden Glockentürme, die den westlichen Portikus, der die Bekehrung des Saulus zeigt, und die westliche Vorhalle überragen, sind an diesem Abend beleuchtet. Hunderte Gläubige strömen aus Richtung des Ludgate Hill die breite Freitreppe hinauf, alle dick eingehüllt in Mäntel und Jacken, die Gesichter versteckt, hinter langen Schals verborgen, die Mützen und Hüte tief ins Gesicht geschoben, die schwarzen Regenschirme abwehrend vor sich haltend. Es sieht fast so aus, als gäbe sich der Schneesturm alle Mühe, die Gläubigen davon abzuhalten, an diesem Heiligabend in die Kathedrale zu gelangen.
    Emily kennt den barocken Bau nur von außen. Wie oft hatte sie in der Cannon Street die Touristen bebettelt. Niemals jedoch hatte sie das stolze Bauwerk von innen gesehen.
    Staunend folgt sie an diesem Abend Master Micklewhite und mir in den geräumigen Innenraum. Schon der Eingang mit seinen paarweise angeordneten Säulen bereitet einen auf die Eleganz des Innenraumes vor. Hauptschiff, Querschiffe und Chor sind angeordnet wie ein lateinisches Kreuz. Mächtige Bögen und flache Kuppeldächer öffnen sich zu einem gewaltigen Raum unter der Hauptkuppel, die mehr als einhundertundzehn Meter in die Höhe ragt.
    Allerorts brennen lange Kerzen in der Kathedrale. Es riecht nach Weihrauch.
    Die Schiffe sind schon besetzt. Die Mitternachtsmesse in St. Paul’s hat bereits begonnen.
    Leise und verstohlen drängen wir uns an eine Wand und beobachten die Menge.
    »Ist er hier?«, fragt Emily im Flüsterton.
    Sie trägt jetzt eine Augenklappe aus Samt, die ich ihr in Marylebone erstanden habe.
    »Ja, irgendwo.«
    Es werden feierliche Lieder gesungen, der Chor ertönt, die Lesungen gehen vorüber, und während des Abendmahls, das der Weihnachtsgeschichte folgt, ist es uns noch immer nicht gelungen, Lycidas auszumachen.
    »Warum geht er an Weihnachten in die Kirche?«, hatte Emily uns im Silver Moon gefragt.
    »Es ist sein Triumph über den Träumer«, gab Maurice Micklewhite zur Antwort. »Heute ist des Träumers Sohn geboren worden, und selbst der Sohn hat es nicht geschafft, die Unvollkommenheit seines Vaters aus den Seelen der Menschen zu tilgen. Indem Lycidas hier auftaucht, hält er dem Träumer erneut einen Spiegel vor.«
    »Sie meinen, er will ihn einfach nur ärgern?«
    Wer weiß das schon?
    »Vielleicht erinnert es ihn aber auch bloß an die Zeit, als es ihm erlaubt war, in den Himmeln zu wandern«, schlug ich vor.
    Nachdem Maurice Micklewhite im Silver Moon seinen Tee getrunken hatte, hatten wir das Pub verlassen. Bevor wir in das Schneegestöber traten, bat mich Emily um etwas. Sie fühlte sich so hässlich, und ich versprach ihr, mich sofort nach einer Augenklappe umzusehen. So tingelten wir durch Marylebone, bis wir eine Apotheke gefunden hatten, die modische Augenklappen führte.
    »Es ist kein Auge«, sagte ich ihr, »aber es schmückt Ihr Antlitz dennoch.«
    Ich wusste, dass dies kein Trost für das Mädchen war.
    Aber immerhin.
    Die Gesänge des Chors schwellen zu einem ohrenbetäubenden, feierlichen Crescendo an.
    Dann ist es vorbei.
    Die Menschenmassen erheben und bekreuzigen sich und strömen den Ausgängen entgegen. Es ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich, in diesen wuselnden Massen nach einem einzigen Gesicht Ausschau zu halten. So sehr wir uns auch anstrengen, niemand wird Lycidas gewahr. Schließlich schlägt Maurice Micklewhite vor, nach draußen zu gehen, wogegen keiner von uns etwas einzuwenden hat.
    Kaum sind wir aus der Kathedrale herausgetreten, sehen wir es.
    »Die Zeit steht still«, sage ich nur.
    Erinnere mich an die Begegnung mit Lycidas in den Tiefen der Hölle. Der Lichtlord war plötzlich verschwunden gewesen, einfach so. Bereits da hatte ich vermutet, dass er noch über die Fähigkeiten seiner Art verfügte.
    Und die Zeit steht wahrlich still.
    Mit einem Mal sind die Menschenmassen um uns herum erstarrt. Gesichtsausdrücke sind wie eingefroren. Es ist ein atmendes Standbild, das sich uns darbietet. Hinter uns erhebt sich das mächtige Portal der Kathedrale, und über uns in der Luft haben selbst die Schneeflocken aufgehört zu fallen. Die eisige Nachtluft ist voller bewegungslos schwebender Schneeflocken.
    »Warum können wir uns noch bewegen?«, fragt Emily, die staunend

Weitere Kostenlose Bücher