Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
Vom Netzwerk:
mit mir, ich bin ein Seraph«, befahl er ihr.
    Irgendwie wusste Emily, dass sie auch gar nicht würde sprechen können. Selbst wenn sie es geschafft hätte, den Mund zu öffnen, hätte ihre Zunge keine Worte formen können.
    Lord Uriel erhob sich.
    »Der Lichtlord war einst unser Bruder«, sagte er. »Zum Roten Meer sind wir geflogen. Dort war er in Liebe zu einem verderbten Weib entflammt.«
    Die anderen Engel drängten sich näher an die beiden heran, weil sie hören wollten, was da gesprochen wurde.
    »Eigentlich mochte ich ihn. Lucifer besaß Humor. Er war klug.« Lord Uriels Blick verfinsterte sich. »Aber nicht weise, nicht wahr?« Nachdenklich erhob er sich und ließ den Blick durch die Runde seiner Brüder schweifen. »Vielleicht ist es an der Zeit, den Lichtlord in die Schranken zu weisen.«
    Ruckartig wandte er sich wieder dem Mädchen zu. Es war die Bewegung eines Vogels, das schnelle Kopfzucken eines Raubvogels, der sich seines Opfers gewiss ist.
    »Dein Glasauge«, hörte Emily den Engel sagen. »Gibst du es mir, wird Lucifer gebannt.«
    Warum das Glasauge?, dachte Emily verzweifelt.
    »Ich kann mit dem Auge sehen«, beantwortete Lord Uriel die unausgesprochene Frage des Mädchens. »Alle deine Erinnerungen und Träume, mein Kind, werden fortan die meinen sein. Ein Teil von dem Licht, das du in dir trägst, wird mich sehend machen.« Er musterte sie streng, und die Flammen in seinen Augen schlugen höher. »Dies ist der Preis. Du musst ihn zahlen oder gehen. Die Wahl liegt bei dir, mutiges Menschenkind.«
    Emily spürte einen Schwindel, als sie das Glasauge berührte.
    Sie hatte das kalte Ding nie gemocht, doch jetzt, wo sie es hergeben sollte, stellte sie fest, dass es doch ein Teil von ihr geworden war. Sie pflückte es aus ihrer Augenhöhle und hielt es in der Hand. So klein und rund. Es hatte eine ganz glatte Oberfläche. Mit dem Finger ertastete sie die nunmehr leere Augenhöhle. Auf einmal waren da wieder die Stimmen der anderen Kinder. Missgeburt, einäugiges Monster, Zyklop. Emily fühlte sich unsagbar hässlich. Das Schlimme war jedoch, dass sie in diesem Augenblick verstand, dass das, was sie da fühlte, sie selbst war. Für alle Zeiten würde sie mit diesem Loch im Gesicht herumlaufen. Sie würde so sterben. Als Missgeburt. Als monströses, andersartiges Etwas, dem die Leute immer heimlich faszinierte Blicke zuwerfen würden, weil Missbildungen die Menschen faszinierten.
    Was Lord Uriel von ihr verlangte, war nicht das, was sie von einem Engel erwartet hatte. Engel waren für sie Geschöpfe der Ehre, der Liebe und der Großzügigkeit gewesen. Keine Feilscher, die ihre Gunst gegen Waren verschacherten.
    Die anderen Engel schwebten im Himmel über ihr.
    Was hatte die einstigen Lichtgeschöpfe hierher verbannt, fragte sich Emily, so tief unter die Erde, mitten ins Herz der uralten Metropole? Himmel und Hölle lagen in dieser Welt so nahe beieinander.
    War dies das Gefühl, erwachsen zu werden?
    Zu erkennen, dass die beiden Orte nicht voneinander zu trennen waren?
    Emily war dieser Welt mit einem Mal so überdrüssig geworden.
    Die Kinderhand, die sich dem Engel entgegenstreckte, schien nicht ihre eigene zu sein. Lord Uriel nahm das Glasauge an sich und lächelte.
    »Wir werden Gutes tun in dieser Nacht«, versprach ihr der gleißende Engel. »Lord Lucifer besucht die Messe in der Kathedrale von St. Paul’s. Gemeinsam mit seiner Gefährtin. Wie jedes Jahr.« Lord Uriel betrachtete das Glasauge, während er sprach, umschmeichelte es mit den langen Fingern. »Dort wird es geschehen. Berichte das deinen Freunden, Emily Laing aus dem Hause Manderley.«
    Er hielt sich das Glasauge dicht vor das Gesicht und lächelte überglücklich. Dann schob er es in seine rechte Augenhöhle, wo es von Licht umflutet wurde und augenblicklich in rotem Schimmer zu glühen begann.
    »Und jetzt, Menschenkind«, sagte Lord Uriel: »Geh!«
    So verließ Emily den Himmel der Urieliten am Oxford Circus und kehrte nach London zurück.
    Maurice Micklewhite sagt argwöhnisch: »St. Paul’s?«
    Emily erwidert nichts.
    Sie denkt an ihre Schwester. Es steht ihr ins Gesicht geschrieben. Sie sorgt sich um sie. Nervös knabbert sie an der Unterlippe, und hin und wieder streicht sie sich mit einer Bewegung, die zu hektisch ist, um ignoriert zu werden, eine Strähne des rötlichen Haars aus dem blassen Gesicht. Viel zu oft ertastet sie mit dem Finger den Platz, wo jetzt kein Glasauge mehr ist.
    »Was sollen wir jetzt tun?«, fragt sie

Weitere Kostenlose Bücher