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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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belagert von den Einkaufswilligen, die in den letzten Stunden des Heiligabend noch Geschenke zu erstehen versuchten. Selbst die kleinen Buch- und Möbelläden in den Seitenstraßen der Einkaufsmeile konnten sich an diesem Tag kaum vor Kundschaft retten.
    Dann erreichten wir Oxford Circus.
    Bereits Stunden zuvor, in der gemütlichen Wärme der Nationalbibliothek, hatte ich Emily den Weg hinab in die uralte Metropole beschrieben; den Weg, den sie über eines der Sidings nehmen musste, um zum anderen Oxford Circus zu gelangen.
    Dort, wo die Straßen sich trafen, die Oxford Street sternförmig in die anderen Distrikte Londons führte, nach Bloomsbury und Piccadilly, Hyde Park und Marylebone; dort sahen wir aus der Ferne den ersten Engel.
    »Das ist Rahel«, sagte ich leise, denn Engel haben ein gutes Gehör, und obschon der Lärm des Straßenverkehrs und die tosenden Geräusche der Stadt angeschwollen waren, je weiter wir uns der Weggabelung genähert hatten, so war mir dennoch allzeit bewusst, dass es wenig ratsam wäre, wenn Rahel uns bemerkte.
    Der Engel stand auf dem Gehweg, hielt eine Klarinette in den Händen und spielte beschwingte Lieder von Gershwin, Berlin und Porter. Er trug einen breitkrempigen Hut mit einer grellen Feder daran, bunte Hosen und einen abgetragenen Armeemantel. Die langen Haare trug er offen. Blond wallten sie ihm über die Schulter.
    Vor ihm auf dem Boden stand ein Schild, auf dem in geschwungenen Lettern geschrieben stand:
    Let’s face the music and dance.
    Einige der Passanten blieben stehen, begannen erst unmotiviert, dann beschwingter mit den Fußspitzen auf den Boden zu tippen und leise die Melodie mitzusummen, die die Klarinette in die Winterluft zauberte.
    Es war ein altes Stück von Irving Berlin, das der Engel da spielte und das die Menschen auf offener Straße tanzen ließ.
Heaven, I’m in heaven, and my heart beats so that I can hardly speak, and I seem to find the happiness I seek when we’re out together dancing cheek to cheek
. Die Zuhörer entkamen für Augenblicke der Hektik ihres Lebens und spürten, wie wunderschön die Welt sein konnte. Nicht einmal die prall gefüllten Einkaufstaschen, die im Takt gegen die Beine schlugen, hielten sie vom Tanzen und fröhlichen Wippen ab.
    »Die Urieliten sind Lichtengel«, sagte ich Emily, die verzaubert lächelte.
    Dort war es, wo ich Emily zurückließ.
    Ich wusste, dass sie dem Engel, der nie länger als bis zur Mittagszeit an diesem Ort verweilte, folgen würde. Die schmutzigen Treppenstufen hinab zum Bahnsteig der Central Line, durch die rostige Tür hinter dem Fahrplananzeiger zum Portobello Siding, den Stufen einer eisernen Leiter weiter in die Tiefe folgend, bis sie am Oxford Circus eintreffen würde.
    »Lord Uriel war immer freundlich zu Kindern«, beruhigte mich Maurice Micklewhite.
    Ich traf den Elfen keine Stunde, nachdem ich Emily ganz auf sich allein gestellt in der Stadt zurückgelassen hatte, im Silver Moon, einem kleinen Pub in Marylebone, wo wir heißen Tee tranken und dem Gemurmel der anderen Gäste lauschten, das sich mit der Musik aus dem Radio zu einem einschmeichelnden Klangteppich verwob.
    Dort warteten wir.
    Darauf, dass Emily aus den Untiefen der uralten Metropole zurückkehren würde.
    Und hier warten wir immer noch.
    »Was glaubst du? Wird Lord Uriel uns unterstützen?«
    Maurice Micklewhite nippt an seinem Tee, lässt das Aroma auf der Zunge zergehen. »Er muss es einfach tun.« In den Worten des Elfen erkenne ich die Angst vor dem, was geschehen kann, wenn die Engel uns ihre Hilfe verweigern.
    Mylady Hampstead hatte davon berichtet, dass sich die Wölfe Kensingtons sammeln. Anubis persönlich war auf den Friedhöfen im Northend gesichtet worden. Manderley Manor rüstete sich zum Kampf.
    Und in London, denke ich, gehen die Menschen shoppen.
    Die Welt dreht sich wahrlich schneller als sonst.
    So sitzen wir da und schweigen, während das Schneegestöber draußen vor dem Fenster an Intensität gewinnt. Städtische Schneepflüge versuchen dem Treiben Herr zu werden, doch ohne Erfolg. London versinkt im Schnee. Am grauen Himmel ziehen immer noch neue Wolken auf.
    Die Stadt erstarrt.
    Geradeso wie wir es tun.
    Ich frage mich, was wohl mit Emily Laing geschehen wird, wenn dies alles überstanden ist. Wird Mylady Manderley sie in ihrem Haus aufnehmen? Wäre dies das Glück, nach dem sich das Herz des Mädchens so lange gesehnt hat? Ich ertaste in der Tasche meines Mantels den Stein, nehme ihn in die Hand und

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