Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
man später, lenkte seinen Karren in den frühen Abendstunden des 31. August über das Kopfsteinpflaster der Buck’s Row, die gesäumt wurde von neu erbauten Arbeiterunterkünften und Lagerhäusern. Nur wenige Gaslaternen erhellten die kleine Blutlache, die von dem in Segeltuch eingewickelten Bündel ausging, das da vor einer Stalltür lag. Mary Ann Nichols, das erste Opfer, wurde von Charles Cross gefunden, einem Fuhrmann aus dem Eastend. Jemand hatte der vierzigjährigen Frau, die als Prostituierte unter dem Namen Polly Nichols bekannt gewesen war, die Kehle durchgeschnitten. Keiner der Bewohner der Buck’s Row und kein Nachtwächter hatte etwas von dieser Gräueltat zu hören bekommen. Seltsam mutete zudem an, dass Charles Cross später zu Protokoll gab, es habe am Tatort ungewöhnlich stark nach feuchter Erde gerochen. Keiner der Constables von der Metropolitan Police konnte etwas mit dieser Äußerung anfangen, und so geriet sie in Vergessenheit.
Die gerichtliche Leichenschau fand in dem von Reportern der Sensationspresse überfüllten Whitechapel Working Lads Institute statt. Der Gerichtsmediziner stellte eine fünf bis sieben Zentimeter lange, zackig verlaufende Wunde an der linken Bauchseite fest. Die Lehmspuren am Körper der Toten beachtete man nicht weiter, da man sie für Schmutz aus der Gosse hielt.
Die Sensationspresse hatte Wind von der Sache bekommen, und in den folgenden Tagen durchkämmten Reporter die Kneipen und Absteigen der Gegend auf der Suche nach einer Beschreibung des Mörders. Unnötig zu erwähnen, dass sich eine Vielzahl an Berichten sammeln ließ, die jedoch widersprüchlicher nicht sein konnten. Der Mord in der Buck’s Row erwies sich als ideales Übungsfeld für die Sensationshascherei der viktorianischen Presse.
Nur etwa eine Woche später fiel die Tochter eines Leibgardisten, Annie Chapman, dem unbekannten Täter zum Opfer. Annie Chapman hatte ihren Mann und ihre beiden Kinder verlassen, um sich als Blumenverkäuferin im Eastend durchzuschlagen – und gelegentlich auch als Prostituierte. Zuletzt sah man sie auf dem Gehsteig in der Hanbury Street. Wie so oft war Annie Chapman auf der Suche nach einer Absteige für die Nacht gewesen, als die beiden fremden Männer sie ansprachen. Der jüngere der beiden schien gesittet und von gutem Stand zu sein. Er bot ihr höflich Trauben an – damals eine Seltenheit und unerschwinglich für die armen Leute, und verwies auf seinen Freund, einen großen Mann, der nur als grobschlächtige Gestalt im Schatten einer schmalen Gasse zu erkennen war.
Weit und breit war keine Menschenseele unterwegs, als Annie Chapman den beiden Männern in den Hof hinter das baufällige Haus folgte, um ihrem Geschäft nachzugehen. Unheimlich war ihr nur der große Mann, der nicht nach den üblichen Ausdünstungen der Arbeiterschaft roch, sondern nach Erde, was sie etwas befremdlich fand.
Eine halbe Stunde später säumte eine aufgeregte Menschenmenge den Hinterhof. Was die Schaulustigen in jener Nacht zu Gesicht bekamen und hörten, nährte die Geschichten, die Freunde und Verwandte und später schließlich ganz London in Schrecken versetzten.
Leiter der Ermittlungen war Inspektor Frederick George Abberline, der mit der Gegend und ihren Schurken vertraut war. Ein fähiger Mann mittleren Alters, der seine Position bei der Metropolitan Police durch gewissenhafte Arbeit erlangt hatte und zudem mit der Presse umzugehen vermochte, was in dieser Angelegenheit eine nicht zu unterschätzende Eigenschaft war.
Sir Charles Warren, der Chef der Metropolitan Police, handelte mit der Ernennung des neuen Ermittlers auf Geheiß eines geschätzten Freundes, der zudem, wie man munkelte, über Kontakte bis hin zum Königshaus verfügte. Nicodemus Manderley war das Oberhaupt einer alten adeligen Handelsfamilie, die ihren Sitz am Regent’s Park hatte. Es war Lord Manderley gewesen, der unermüdlich darauf gedrängt hatte, Inspektor Abberline die Federführung in diesem Fall zu übertragen. Denn Abberline wusste von Dingen, von deren Existenz die übrigen Leute bei der Metropolitan Police nicht einmal etwas ahnten.
Frederick George Abberline wusste von der Stadt unter der Stadt.
Als junger Constable hatte er einst einen Taschendieb verfolgt, dessen Körper, wie sich schnell herausstellte, als Wirt für einen Inkubus gedient hatte. Wäre nicht zufällig Lord Manderley zur Stelle gewesen, so hätte Abberline wohl kaum den nächsten Sonnenaufgang erlebt. Was Lord Manderley mit dem
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