Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Höher und höher steigt er auf, während die Engel, von denen einige jetzt im Innenraum der Kathedrale mit weit ausgebreiteten Schwingen schweben, Irving Berlin singen. Lord Uriel, der furchtgebietender aussieht als je zuvor, dirigiert den Schneesturm der Decke entgegen. Dann explodiert die Kathedrale in gleißendem Licht; ein Licht, das in der Laterne hoch oben über der Ziegelkuppel bewahrt wird für alle Zeit.
Stille senkt sich über die Kathedrale.
Die eben noch wirbelnden Schneeflocken fallen von der Kuppel nieder, sodass es aussieht, als schneie es in der Kirche. Die Zeit läuft weiter. Die Menschen bewegen sich wieder. Gemurmel erhebt sich. Fußgetrappel. Dann heben die ersten Gläubigen aufmerksam die Blicke und erstaunte Rufe werden laut: »Die Laterne, sie leuchtet wieder!« Es ist wie ein Wunder.
Die Laterne von St. Paul’s, die seit dem Großen Krieg nicht mehr geleuchtet hatte, erstrahlt in neuem Glanz, und dieses Licht breitet sich über die ganze Stadt aus, ergießt sich über die Dächer mit ihrem Meer an Schornsteinen und Straßen, hinab zur Themse und darüber hinaus. Von weitem erkennt man das strahlende Licht auf der Kuppel von St. Paul’s.
Und drüben auf der anderen Flussseite in Rotherhithe steht ein alter Mann am Fenster der Kammer im Waisenhaus und weiß, dass auch seine Zeit gekommen ist.
»Was ist denn nur passiert?« Emily hatte sich die Augen abgeschirmt.
»Es ist vorbei.«
Lord Uriel ist verschwunden, als habe es ihn niemals gegeben.
»Wir sollten jetzt gehen«, schlage ich vor.
Emily ergreift meine Hand.
Als wir die Kathedrale verlassen, sehen wir Rahel, der am Fuße des Denkmals für Queen Anne steht, auf seiner Klarinette beschwingte Lieder spielt und jedem ein Lächeln schenkt, der eine Münze in den geöffneten Koffer vor ihm wirft. »Frohe Weihnachten«, ruft er uns zu.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Die Wohnung in Marylebone ist warm und behaglich, als wir dort eintreffen. Kaminfeuer prasselt leise, und als wir eintreten, knarzen die Dielen wohlig unter unseren Füßen. Mylady Hampstead und Aurora Fitzrovia erwarten uns bereits. Beide hatten am Fenster staunend den Lichtschein gesehen, der sich über das nächtliche London ergoss.
Jetzt fallen sich die beiden Mädchen überglücklich in die Arme.
Erschrocken betrachtet Aurora die Augenklappe ihrer Freundin. »Was ist geschehen?«
Gespielt genervt antwortet Emily nur: »Frag nicht.«
Dinsdale, der kurz vor unserem Eintreffen in die uralte Metropole zurückgekehrt ist, hatte Mylady davon berichtet, dass Engel mit Flammenschwertern die wenigen Eingänge zum neunten Kreis der Hölle versiegelt haben. Der Lordkanzler von Kensington hat sich, nachdem er die Nachricht vom Fall seines Herrn vernehmen musste, in die Royal Albert Hall zurückgezogen.
Lord Brewster, von dem seit der Schlacht in Pairidaezas Kathedrale niemand mehr Nachricht erhalten hatte, bleibt verschollen.
»Was ist mit meiner Schwester?«, will Emily wissen.
Mylady Hampstead macht ein ernstes Gesicht. »Mia Manderley hat ihre Tochter in die Arme geschlossen. Ja, sie ist bei ihrer Mutter.« Emily spürte, dass da noch etwas ist. Etwas Unerfreuliches. »Vor wenigen Stunden hat Manderley Manor die Ehe zwischen den beiden Häusern für gescheitert erklärt.«
Das ist wahrlich keine gute Neuigkeit.
»Werden Sie mich zu meiner Mutter bringen?«, will Emily wissen.
»Wenn Sie das wünschen.«
Emily sieht Aurora an und schweigt lange Zeit.
Dann fragt sie zögerlich: »Was wäre die Alternative?« Sie denkt an Mylady Manderley, ihre herrische Großmutter, und an das riesige, schattenhafte Anwesen im Regent´s Park.
»Sie können ins Waisenhaus zurückkehren«, schlage ich vor.
Beide Mädchen starren mich entsetzt an.
Diese Kinder!
Hatten sie etwa geglaubt, ich würde sie adoptieren?
»Das Waisenhaus wird einen neuen Leiter bekommen.«
Der Reverend hat mitsamt seinem Gehilfen, dem feisten Herrn, der sich als sein Sohn ausgegeben hat, schleunigst das Weite gesucht, als der Lichtschein die Dächer Londons überflutete.
»Das verstehe ich nicht.«
Aurora schweigt.
»Miltons Gehilfe hieß Edward King, John Dees Gehilfe hörte auf den Namen Edward Kelly.« Ich stehe auf und gehe zu einem Bücherregal, greife mir ein staubiges Exemplar der
Vita Obscura
und zeige Emily ein Bild des Verfassers.
Beide Mädchen erbleichen beim Anblick des Mannes, der sowohl John Milton als auch John Dee zur Hand gegangen war.
»Das ist Reverend Dombey.« Aurora Fitzrovia
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