Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Monster hatte in jener Nacht erneut das Eastend aufgesucht, und als es den Ort des Grauens verließ, hatte es das Herz seines Opfers mitgenommen.
Am späten Abend des 9. November erreichte eine eilige Nachricht Manderley Manor. Ein angeblicher Zeuge der grauenhaften Verbrechen vom Eastend wolle sich mit Seiner Lordschaft noch in dieser Nacht treffen. Treffpunkt sollte eine kleine Wohnung am Miller’s Court sein. Nachdem sich Lord Manderley von Frau und Tochter verabschiedet und Inspektor Abberline bezüglich seines Vorhabens verständigt hatte, suchte er genannten Treffpunkt auf. Unterwegs traf er auf zwei Constables der Metropolitan Police, die ihm Abberline zur Begleitung geschickt hatte.
Am Miller’s Court angekommen, bezogen die beiden Polizisten Posten an dem schmalen Torbogen, der in die Passage führte. Wen auch immer Seine Lordschaft träfe – es würde der Person unmöglich sein, von dort zu fliehen. Nicodemus Manderley erwartete, in den letzten Augenblicken seines Lebens die Bekanntschaft eines weiteren Zuhälters zu machen, der ihm die Namen verdächtiger Freier nennen wollte. Vielleicht auch jemanden, der dem neuesten Gerücht, es handele sich bei dem Mörder um einen Angehörigen der königlichen Familie, Nahrung geben würde. Niemals jedoch hatte er erwartet zu sehen, was er schließlich durch das regentropfenbesprenkelte kleine Fenster sah. Die letzten Sekunden einer tobsüchtigen Verstümmelung, das berserkerhafte Wüten einer riesenhaften Gestalt, die, als sie sich ihm zuwandte, nicht einmal Gesichtszüge besaß. Zu spät bemerkte Lord Manderley die zweite Gestalt, die hinter ihm aus dem Schatten trat und ihm die lange Klinge eines Elfensäbels in den Hals stach. Tränen traten in die hellblauen Augen des Elfen, während er nach Luft rang, und nur ein leises, verzweifeltes Röcheln seiner Kehle entstieg. Nicodemus Manderley dachte an seine geliebte Frau und die kleine Mia, seinen Stern, und daran, dass die Welt sich verändern würde. Angst und lähmende Ohnmacht waren die letzten Empfindungen, die sich seiner bemächtigten. Das verhasste Gesicht seines Mörders vor Augen, der ihm alles andere als unbekannt war, und den schweren Geruch nassen Lehms in der Nase ging er in die Knie.
Nach dieser Nacht schlug die Kreatur, die unter dem Namen Jack the Ripper zur Legende werden sollte, vorerst nicht mehr zu.
Kapitel 1
Ein neuer Anfang
Die Welt ist gierig, und manchmal verdirbt sie einstmals reine Herzen. Emily Laing, die sich noch immer weigerte, den Namen Manderley anzunehmen, erfuhr dies schmerzhaft vor nur wenigen Tagen. Niemand von uns hätte damit gerechnet, dass ausgerechnet durch meine Schutzbefohlene diese Kette unglückseliger Geschehnisse in Gang gesetzt werden sollte, mit denen fertig zu werden es nun unsere Aufgabe ist. Emily hatte einen Verrat begangen, getrieben von ihrem jungen Herzen, obschon es im Grunde genommen ein Verrat an eben diesem Herzen selbst gewesen war.
»Es tut mir so Leid«, hatte sie geschluchzt, nachdem sie die ungeheuerliche Tat gestanden hatte. »So Leid.« Den Blick schuldbewusst und verzweifelt niedergeschlagen, stand sie verloren in meinem Arbeitszimmer, gleich neben dem riesigen hölzernen Globus, auf dessen polierter Oberfläche sich das Flackern des Kaminfeuers spiegelte. Wenngleich ich entsetzt ihr Geständnis zu verarbeiten versuchte, empfand ich dennoch Mitleid mit ihr. Unwillkürlich musste ich an unsere erste Begegnung denken, am Fuße der Rolltreppe in der Tottenham Court Road, wo sie zitternd und verängstigt neben der großen Ratte gehockt hatte. Schon seit einiger Zeit war sie nicht mehr das kleine Mädchen, das einst aus dem Waisenhaus in Rotherhithe geflohen war. Emily Laing war nunmehr auf dem Weg, eine junge Frau zu werden. Ich sah ein Mädchen vor mir, dessen Gesichtszüge markanter geworden waren und das sein rotes Haar jetzt schulterlang und gescheitelt trug, wobei eine lange Strähne über diejenige Gesichtshälfte mit dem kalten Auge aus geschliffenem Mondstein fiel. Noch immer nannte sie das Misstrauen eines ehemaligen Waisenkindes ihr Eigen. Emily Laing tat sich schwer, den Menschen zu vertrauen. Ihr gesundes Auge war ein Blickfang, so blau, dass sie ihre Herkunft kaum verleugnen konnte, und doch manchmal so kalt, dass es selbst ihre Freundin Miss Fitzrovia ängstigte.
Dabei hatte Emily Laing eine neue Familie gefunden – oder zumindest das, was einer Familie am nächsten kam. Daniel und Betsy Quilp hatten sowohl Emily als auch ihre
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