Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Maurice Micklewhite hatte unser aller Befürchtungen auf den Punkt gebracht. Denn die uralte Metropole wartete und übte sich in Geduld, während die Spannungen zwischen den mächtigen Häusern langsam und doch stetig wuchsen.
Elf Monate ist es nun her, dass sich die beiden Häuser trennten. Elf Monate im Stundenglas Londons, in denen es nicht zu den erwarteten Aggressionen gekommen ist. Doch scheint es mir, als lauere das Unheil in den Straßen und Gassen und weit verzweigten Schächten der U-Bahn. Wieder geschehen seltsame Dinge in London. Damals, als Lord Manderley dem Mörder von Whitechapel zum Opfer gefallen war, hatte es ähnlich begonnen. Erst wurden seltsame Kreaturen gesichtet, und dann breiteten sich Hass und Boshaftigkeit wie eine Epidemie aus, befielen Pöbel und Adel gleichermaßen.
»Was wird nun geschehen?«, hatte Emily wissen wollen. Damals, bevor wir in den Quilps geeignete Pflegeeltern gefunden hatten.
»Fragen Sie nicht!«
»Wird man mich als eine Manderley akzeptieren? Irgendwann?«
Ich hatte geschwiegen, weil ich die Antwort nicht kannte. Mein Gesichtsausdruck jedoch hatte preisgegeben, dass ich eine Antwort zumindest ahnte. Und die letzten Monate haben gezeigt, dass ich mit meiner Vorahnung Recht behalten sollte.
Mia Manderley hatte nicht einen einzigen Moment lang in Erwägung gezogen, Emily als ihre Tochter anzuerkennen. Warum dies so war? Niemand von uns wusste darauf eine Antwort. Musste sie nicht wissen, dass Emily der Liebesbeziehung zu Richard Swiveller entsprungen war, den man später hatte liquidieren lassen? Sah sie nicht in Emilys Gesicht die Züge jenes Mannes, dem sie einst ihr Herz geschenkt hatte? Verspürte sie nicht das Verlangen, das Kind an sich zu drücken und bei sich aufzunehmen? Die Antwort ist schlicht und ergreifend: Nein, sie dachte oder tat nichts von alledem. Warum dies so war? Fragen Sie nicht! Es ist nun einmal so, und Emily akzeptierte es. Nicht dass sie eine Wahl gehabt hätte. Das Haus der Manderleys wollte nichts mit dem Mädchen zu tun haben. Die zaghaften Versuche Maurice Micklewhites, die Angelegenheit dezent zur Sprache zu bringen, wurden mit aller Heftigkeit abgeschmettert.
»Eigentlich will ich auch gar nichts mit ihnen zu tun haben«, bekundete Emily nachdrücklich.
Mit Grauen erinnerte sie sich an den Tag, an dem sie Manderley Manor zum ersten Mal betreten und ihrer Großmutter gegenübergestanden hatte. Die eisig kalten Augen in dem herrischen Gesicht mit der bleichen Haut und den abfällig herabgezogenen Mundwinkeln hatten Emily augenblicklich frösteln lassen. Damals hatten wir die kleine Mara zum Anwesen am Regent’s Park zurückgebracht, und das war es, was Emily Kummer bereitete. In keinster Weise verspürte sie das Bedürfnis, in diesem riesigen Haus mit seinen Treppen und düsteren Winkeln zu leben. Sie wollte einfach nicht dorthin gehören. Zwar hätte sie einiges dafür gegeben, nur einmal ihrer leiblichen Mutter gegenübertreten zu können, doch hatte sich Mia Manderley nicht einmal dazu herabgelassen, ihre jüngste Tochter Mara in unserer Anwesenheit in die Arme zu schließen, als wir sie nach Manderley Manor gebracht hatten. Überhaupt lebte Mia Manderley nunmehr seit einiger Zeit vollständig zurückgezogen. Niemand hatte die junge Frau gesehen, seitdem sie sich von ihrem Ehemann und der Mushroom-Familie gelöst hatte. Wenn man die kleine Mara, die im letzten Herbst ihr drittes Lebensjahr vollendet hatte, außerhalb des herrschaftlichen Hauses sah, dann in Begleitung ihrer Großmutter Eleonore oder aber der Gesellschafterin des Hauses, Miss Anderson, die das uneingeschränkte Vertrauen Mylady Manderleys genoss.
»Es ist die kleine Mara, die ich vermisse.« Wenn Emily dies aussprach, konnte man unschwer den Schmerz in ihrem blauen Auge erkennen. »Wir stehen einander nahe, obwohl wir uns nicht kennen«, hatte sie mir zu erklären versucht und etwas unsicher, ob es den Tatsachen entsprach, hinzugefügt: »Wir träumen voneinander.«
»Ich weiß.«
»Sie meinen«, hatte Aurora sich eingeschaltet, »dass die beiden die gleichen Träume träumen?«
»Sie sprechen in ihren Träumen zueinander. Sie sehen die Welt durch die Augen der anderen.«
»Es ist, als würde man jemandem einen Brief schicken, der lebendige Bilder und echte Gefühle enthält«, hatte Emily diesen Zustand beschrieben. »Man bewegt sich in der Erinnerung der anderen, lebt Szenen aus deren Leben und fühlt deren Gefühle. Es ist, als könnten wir in den Körper
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