Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Inkubus anstellte, machte eine Erklärung unausweichlich. Abberline war ein bodenständiger Mann mit scharfem Verstand, und Lord Manderley hatte augenblicklich erkannt, dass er den jungen Constable nicht mit einer Lüge würde abspeisen können. Zudem mochte Manderley die beherzte Art des Polizisten, und nicht zuletzt hatte der Lord den Inkubus nur deswegen exorzieren können, weil Abberline ihn in einem Hinterhof nahe der Middlesex Street in die Enge getrieben hatte.
So erfuhr Abberline von der Stadt unter der Stadt. Vom Leben, das tief unter dem schmutzigen Kopfsteinpflaster pulsierte.
Nachdem er zum Leiter der Ermittlungen berufen worden war, erfuhr Abberline von Lord Manderley, dass es nicht nur in London zu Morden gekommen war, sondern auch in der Stadt unter der Stadt. Eine alte Gildehändlerin aus South Kensington war in dem Labyrinth unterhalb des Duffield’s Yard bestialisch ermordet worden. Nur wenige Stunden später hatten Tunnelstreicher die übelst zugerichtete Leiche einer Katzenfleischfrau in den Schächten unterhalb der Mark Lane entdeckt. Beider Frauen Körper und Kleidung waren mit Spuren frischen Lehms übersät gewesen. Zudem hatte die Gildehändlerin in der gleichen Nacht den Tod gefunden wie die beiden letzten Opfer des Eastend-Mörders Elizabeth Stride und Catherine Eddowes.
Der Senat der Metropole, der gleich zu Beginn der Mordserie in den Räumen der Westminster Abtei getagt hatte, betonte die Notwendigkeit, das Rätsel um den geheimnisvollen Mörder baldigst zu lösen. Lord Manderley erhielt den Auftrag von der Regentin höchstpersönlich, und nur wenige Stunden später wurde der Fall Inspektor Abberline übertragen.
Die Jagd konnte beginnen.
Es war ein einfacher Brief, verfasst mit roter Tinte und datiert auf den 25. September, der einen Mythos gebar. Der Brief wurde Anfang Oktober in der ersten Ausgabe des
Star
veröffentlicht und endete mit den Zeilen, die nunmehr Geschichte sind:
Mein Messer ist so hübsch und scharf, ich möchte gleich wieder an die Arbeit gehen, wenn sich die Gelegenheit bietet. Viel Glück. Ihr ergebener Jack the Ripper.
Der Mörder war noch immer nicht gefasst worden, doch hatte er nun endlich einen Namen. Überall in London und der Stadt unter der Stadt flüsterten die Menschen den Namen der Bestie, sprachen ihn leise und ehrfürchtig aus, gerade so, als brächte es Unglück, laut von dieser Kreatur zu sprechen, die mit dem Nebel durch die Gassen des Eastend kroch und die Frauen metzelte.
Lord Manderley und Inspektor Abberline verbrachten Tage und Nächte damit, den Brief auf Handschrift und Sprachgebrauch hin zu analysieren und kamen doch zu keinem Ergebnis. Sie befragten die Menschen in Whitechapel und dem Tunnellabyrinth darunter. Lord Manderley scheute sich nicht einmal, den Schriftsteller Conan Doyle einzuschalten, dessen Detektivromane höchst populär waren. Robert Stevenson, dessen Theaterstück
Dr. Jekyll and Mr. Hyde
im ausverkauften Lyceum von Henry Irving inszeniert wurde, verwies allenfalls darauf, dass sein Werk imaginären Ursprungs sei und keineswegs als psychologisch fundiert angesehen werden dürfe. Niemand konnte den Ermittlern der Metropolitan Police weiterhelfen. Selbst der königliche Leibarzt, sonst sehr interessiert an Abnormitäten, wusste keinen Rat.
Derweil mordete Jack weiter: Es traf einen Müllsammler aus Whitechapel, den man ohne Herz und Augen in einer Kloake nahe King’s Moan auffand. Einen Tag später dann wurde ganz England mit dem abscheulichsten Verbrechen konfrontiert, das je begangen worden war. Niemand sollte je erfahren, dass zwei Menschen Zeuge jener Tat waren. Denn nur einem der beiden Zeugen wäre daran gelegen gewesen, der Öffentlichkeit das Gesicht des Mörders zu präsentieren. Und wie es das Schicksal wollte, sollte ausgerechnet diese Person ihr Wissen mit ins Grab nehmen.
Das Wissen nämlich, dass der Mörder gar kein Gesicht hatte.
Mary Jane Kelly empfing ihren letzten Kunden in einem zwölf Quadratmeter großen Zimmer am Miller’s Court. Es war die Nacht des 9. November, und als der Morgen anbrach, hatte das einstmals junge und für eine Prostituierte überaus hübsche Mädchen keinerlei Ähnlichkeit mehr mit einem menschlichen Wesen. Das Gesicht des Mädchens fehlte vollständig, und der geschundene Körper war nicht einmal in seinen Konturen als solcher erkennbar. Überall im Zimmer verstreut fand man Organe und Fleischfetzen. Feuchte Erde und Lehm klebten an den Wänden und auf den Dielen. Ein
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