Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Freundin Aurora unter ihrem Dach am Streatley Place No. 17 aufgenommen, drüben in Hampstead, wo die grünen Rasenflächen, die polierten Briefschlitze in den hölzernen Haustüren und die aus rotem Backstein gemauerten Reihenhäuser Normalität und Spießigkeit verhießen. War dies nicht die Welt, die sich ein Waisenkind wünschte? Ein hübsches Zimmer zu haben und fürsorgliche Pflegeeltern?
Daniel Quilp arbeitete als Buchhalter bei Tesco in der City, und man konnte sich lebhaft vorstellen, wie die kleinen, zusammengekniffenen Äuglein, die in dem runden Gesicht hinter ebenso runden Brillengläsern hervorlugten, tagtäglich über penibel geordnete Belege huschten, während die fleißigen Finger emsig Geschäftsfälle in den Computer eingaben. Seine Frau Betsy kümmerte sich um den Haushalt, und dies mit der gleichen Hingabe, die ihr Mann seiner Arbeit entgegenbrachte.
Es war Maurice Micklewhite gewesen, der auf die Idee gekommen war, die Kinder der Obhut der kinderlosen Eheleute Quilp anzuvertrauen. Er hatte die Bekanntschaft Daniel Quilps gemacht, als dieser noch der Handelsgilde vom Covent Garden angehört hatte. Irgendwann hatte Daniel beschlossen, den labyrinthischen Tunnelsystemen der uralten Metropole den Rücken zuzukehren und sich und seiner frisch angetrauten Betsy ein Leben in London aufzubauen.
»Ein normales Leben«, wie er zu sagen pflegte.
Neigt man dazu, den sich tagtäglich wiederholenden Arbeitstrott, einen Mangel an Forschergeist und den Rückzug in ein Vorstadtreihenhaus als normal anzusehen, wird man nicht umhinkönnen, Daniel Quilps Beschreibung seines Lebens zuzustimmen.
»Immerhin sind die beiden glücklich«, hatte Maurice Micklewhite betont.
»Und nur das zählt, was?«
Sollte ich erwähnen, dass ich die Quilps zu den langweiligsten Menschen zähle, denen ich in meinem Leben über den Weg gelaufen bin?
»Du bist ungerecht«, würde mich Maurice Micklewhite zurechtweisen.
Belassen wir es also bei dieser dahingeworfenen Bemerkung.
Die beiden Mädchen jedenfalls fühlten sich wohl in dem kleinen Haus mit seinen Teppichböden, knarzenden Dielen, samtig rotbraunen Vorhängen und säuberlich gerafften Gardinen. Emily und Aurora teilten sich ein Zimmer im zweiten Stock.
»Miss Laing und Miss Fitzrovia gehören einfach zusammen«, pflegte Daniel Quilp zu sagen.
Mrs. Quilp, die klassische Literatur mochte, fügte später hinzu: »Geradeso wie Rosenkranz und Güldenstern.«
In den Wochen nach jenem denkwürdigen Weihnachtsfest, an dem Lycidas in die Kuppel der St. Paul’s Kathedrale verbannt worden war, waren die beiden Mädchen in ihr gemütliches Zimmer mit der Dachschräge, dem nach den Fünfzigerjahren muffelnden grünen Teppichboden, den beiden uralten Ohrensesseln und dem von den Eheleuten Quilp neu erstandenen Etagenbett am Streatley Place No. 17 eingezogen.
»Das ist also unser neues Zuhause«, hatte Aurora ehrfürchtig geflüstert, als sie schließlich allein auf dem unteren Bett saßen und durch das hohe, gardinenbehangene Fenster den sternenklaren Himmel betrachteten.
Emily hatte die Hand ihrer Freundin ergriffen. »Unser erstes Zuhause.«
Die einäugige Missgeburt und das Schokoladenmädchen hatten es also geschafft.
Sie waren dem Waisenhaus in Rotherhithe entkommen und würden wie normale Kinder leben können.
Hampstead, auf einem Hügel nördlich von London gelegen, wirkt auch heute noch wie ein georgianisches Dorf, in dem wenig vom Stress und der Hektik der Großstadt zu spüren ist. Die schmalen, hochgebauten Häuser mit den kunstvollen Schmiedearbeiten und die engen, kopfsteingepflasterten Straßen und Gassen, die vielen Cafés und kleinen Geschäfte gaukeln den Menschen vor, weitab auf dem Land zu wohnen. Die grüne Parklandschaft Hampstead Heath trennt den Vorort von Highgate und unterstreicht den Kontrast zum hektischen Leben in der Innenstadt.
Emily und Aurora hatten ausdrücklich den Wunsch bekundet, zusammenbleiben zu wollen.
»Irgendwie sind wir wie zwei Schwestern«, pflegten beide zu sagen.
Nun denn.
Maurice Micklewhite und ich hatten nichts dagegen einzuwenden gehabt. Und in den Quilps, deren Wunsch nach Kindern sich in den fast dreißig Jahren ihrer Ehe nicht erfüllt hatte, fanden wir liebevolle Pflegeeltern, die zudem von den Problemen der uralten Metropole wussten – wenngleich sie, das sollte ich hier anmerken, vehement die Absicht bekundeten, sich aus alldem heraushalten zu wollen.
»Es ist nur eine Frage der Zeit, bis etwas geschehen wird.«
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