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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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der anderen schlüpfen, für kurze Zeit. Ich spüre, wie Mara die Welt empfindet.« Nach einer Pause flüsterte sie zögerlich: »Und ich weiß, dass sie mich vermisst.« Viel später sprach sie dann aus, was wir alle befürchtet hatten: »Etwas stimmt nicht in diesem Haus. Etwas ist nicht richtig.« Emily glaubte, dass sich ihre kleine Schwester vor jemandem fürchtete.
    Genau darüber hatten wir uns, Maurice Micklewhite und ich, den Kopf zerbrochen.
    Wusste Lord Mushroom, dass Mara nicht seine leibliche Tochter war? Wusste Mylady Manderley, dass Mara die Tochter Richard Swivellers war, den ihre Tochter einst so geliebt hatte? Hatte man in Manderley Manor erkannt, dass beide Erben Wechselbälger waren, in deren Adern nur zur Hälfte elfisches Blut floss? Die äußerlichen Merkmale würden sich bei Mara erst im Laufe der Jahre herausbilden. Wenn Mia Manderley ihre Mutter nicht von diesem Zustand in Kenntnis gesetzt hatte, dann würde sie es in den nächsten Jahren noch verheimlichen können. Vor dem zehnten Lebensjahr zeigten sich kaum Äußerlichkeiten, die auf einen Wechselbalg schließen ließen.
    »Was ist, wenn nicht einmal die eigene Mutter weiß, dass ihre jüngste Tochter ein Wechselbalg ist?« Maurice Micklewhite hatte es damals angesprochen. »Wäre es nicht logisch, auch diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen?«
    Und wir würden
was
daraus schlussfolgern?
    Niemand wüsste, dass Emily und Mara nicht nur Wechselbälger, sondern auch sehr talentierte Trickster sind. Niemand, außer einigen verschworenen Eingeweihten. Und eingedenk der Tatsache, dass es bisher noch zu keinen Unruhen gekommen ist, können wir wohl getrost davon ausgehen, dass niemand von Dingen weiß, von denen er nichts wissen sollte.
    Alles in allem war es daher eine gute Entscheidung gewesen, Emily Laing in einem unauffälligen Umfeld unterzubringen. Keines der beiden Häuser richtete seine Blicke auf Hampstead.
    Emily Laing wurde zu einem ganz normalen Mädchen.
    Zumindest nach außen hin.
    Des Nachts plagten sie oft schlimme Träume, in denen sie durch ein Tunnellabyrinth unterhalb der Stadt irrte, wo Kinder mit Spiegelscherbenaugen kläglich wimmerten und missgestaltete Kreaturen in den tiefen Schatten lebten. Beide Mädchen träumten von den Dingen, die ihnen vor vier Jahren widerfahren waren und die zu vergessen ihnen nicht vergönnt gewesen war. Wie im Waisenhaus krochen sie dann zueinander ins Bett und hielten einander in den Armen, während draußen der Wind die Fensterläden klappern ließ und es überall im Haus leise zu ächzen schien. Manchmal standen die beiden barfuß vor dem Fenster und blickten hinaus, konnten über die Dächer der anderen Häuser hinweg in die City sehen, wo die beleuchtete Kuppel der St. Paul’s Kathedrale im Nachthimmel leuchtete.
    »Glaubst du«, flüsterte Aurora dann, »dass er noch dort ist?«
    Emily hoffte es. »Ich weiß nicht.«
    Die Urieliten hatten Lycidas in die Laterne hoch oben auf der Kuppel verbannt, und es sollte ihm unmöglich sein, von dort zu fliehen. Master Lycidas, der Lichtlord, der Emily das Leben geschenkt hatte, dessen Häscher sie und Aurora durch die Tunnel und Schächte gejagt und dessen Gefährtin engen Kontakt zum Waisenhaus unterhalten hatte.
    »Es gibt keine Zufälle«, erinnerte sich Emily oft meiner Worte.
    Erfuhr wirklich alles seine Bestimmung?
    Hatten die beiden Mädchen dies alles tatsächlich erlebt?
    Es gab Tage, an denen sie es bezweifelten. Wenn die Sonne schien und die beiden durch den Park spazierten, wenn sie durch die Kaufhäuser und Geschäfte in der City bummelten und sich im Sony Centre in der Baker Street die neuesten CDs anhörten, dann waren sie normale Kinder in einer normalen Welt, in der nichts von dem existierte, was sie einst gesehen hatten.
    »Wir sind wie die anderen«, sagte Aurora oft in solchen Momenten.
    Und Emily musste dem Drang widerstehen, mit dem Finger ihr Mondsteinauge zu berühren.
    »Du bist es auch«, sagte Aurora dann.
    Emily lächelte zaghaft.
    »Du bist so hübsch«, gestand ihr Aurora, und später würde sie bemerken: »Die Jungs schauen immer nur dir hinterher.«
    Emily jedoch mutmaßte, dass die Jungs eher einer morbiden Faszination folgend einen Blick auf ihr Auge zu erhaschen versuchten. Also ließ sie die Haare länger wachsen und kämmte sich eine lange Strähne über die linke Gesichtshälfte. Zu wissen, dass so ihr künstliches Auge vor den neugierigen Blicken der Welt versteckt blieb, gab ihr ein Gefühl von

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