Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
sagen es. Um die Angst und die Fähigkeit, mit ihr fertig zu werden.«
»Haben Sie es geschafft?«
Dieses Kind!
»Zweifeln Sie daran?«
Sie grinste erschöpft und nahm erneut einen tiefen Atemzug der frischen, klaren Nachtluft.
»Fragen Sie nicht!«
Ich beschloss ehrlich zu sein. »Ich habe es nicht geschafft. Die Diener der Rättin zogen mich halb ersoffen aus dem Wasser. Den Stein hielt ich noch immer in der Hand umklammert. Letzten Endes hatte ich es nicht geschafft, mich meiner Angst zu stellen. Nicht beim ersten Mal.«
»Warum?«
»Ich musste fortwährend an einen Jungen aus meinem Heimatort denken. Lange her ist das. Und den Namen des Jungen, der damals sehr klein gewesen ist, ganz so wie ich selbst, habe ich auch vergessen. Doch spielten wir des Winters auf dem zugefrorenen See hinter dem Schulhaus. Das geschah lange, bevor ich die Bekanntschaft der Rättin machen durfte. Jedenfalls erinnere ich mich. Das Eis war gefährlich dünn an manchen Stellen, und der Junge brach ein. Er ging unter wie ein Stein. Wir Kinder rannten aufgeregt und um Hilfe schreiend umher, und nach einer Weile sahen wir den Jungen, an dessen Namen ich mich nicht einmal mehr erinnern kann, wie er unter dem Eis dahinglitt, wild mit den Armen rudernd, und gegen die dicke Eisschicht trommelte. Niemand konnte ihm helfen. Die Luftblasen aus seinem Mund trieben noch unter dem Eis dahin, als er schon längst kalt und erstarrt und tot war. Selbst den Luftblasen wollte es nicht gelingen, einen Weg nach draußen zu finden.«
»Das ist schrecklich.«
»Daran erinnere ich mich. Nicht mehr an den Namen des Jungen. Es war ein kurzer Name, so viel weiß ich noch. Aber an seine Augen. An seine Augen erinnere ich mich, als sei es gestern erst geschehen. An den überraschten Ausdruck in ihnen, als die Luft aus seinem Körper wich und mit ihr das Leben.«
»Deshalb der Test.«
Ich nickte. »Seit jenem Tag auf dem Eis war meine größte Angst, keine Luft mehr zu bekommen. Dieser Gedanke wurde zur fixen Idee. Nachts wachte ich auf und glaubte, jemand schnüre mir die Kehle zu. Fortwährend sah ich den Jungen vor mir. Und als mich Mylady Hampstead in die Höhle am Strand schickte, da sah ich erneut das verzerrte, panische Gesicht des Jungen und dachte, dass es mir genauso ergehen würde.«
»Das war’s dann.«
»Sie sagen es.«
»Und?«
»Zwei Tage später bestand ich den Test, und der Stein schwebte aus der Höhle hinaus bis hin zur Rättin. Ich fühlte den Stein, konnte sein Muster ertasten, all die kleinen Feinheiten auf seiner Oberfläche. Und ich spürte die Umgebung, die Felswände, die Strömung. Und als ich wieder oben auf den Klippen stand, befielen mich die gleichen Empfindungen wie Sie, kleine Emily.«
»Sie spürten die Welt.«
Trefflicher ist es kaum zu umschreiben.
»Sie sagen es.« Und fügte hinzu: »Ich spürte das Leben.«
»Die Dinge waren mit einem Mal nicht mehr selbstverständlich.« Ihr gesundes Auge funkelte im fahlen Licht des Mondes. »Es ist gut, dass die Welt, so wie sie ist, da ist. Und man selbst darinnen.«
Dem war nichts hinzuzufügen.
Eingegraben in die Erde wurde ich erst später. Da hatte ich meine Angst jedoch bereits fest im Griff, und das Muster des Bilderjaspis war allgegenwärtig. Mylady Hampstead war zufrieden mit mir, und dennoch sollte ich mich später weigern zu tun, was sie von mir verlangte.
Doch das ist eine andere Geschichte.
Von der ich auch Emily Laing aus Rotherhithe nichts erzählte.
Jedenfalls nicht an diesem Tag.
Immerhin.
Das Training des Mädchens hatte an jenem Abend im Old English Garden begonnen. In den Tagen, die kamen, erwies sie sich als talentiert, und die Dinge hätten einen geordneten Lauf nehmen können. Doch dann, als kaum ein Jahr vergangen war, seitdem Lycidas vom Angesicht Londons verschwunden war, wurden wir ins Britische Museum zitiert und sollten von den Dingen erfahren, die sich neuerdings zutrugen in der Stadt der Schornsteine am dunklen Fluss.
Unter anderem war es das, worüber Emily Laing in jener Nacht nachdachte, als sie wieder einmal allein am Fenster saß, während Aurora Fitzrovia still schlummerte. Eine Botschaft hatte uns am Nachmittag erreicht, in der Mylady Hampstead die Dringlichkeit betonte, mit der sie uns sprechen müsse. Emily wusste wenig über das Nachrichtensystem der Ratten, doch dass das Entsenden einer Trafalgar-Taube nichts Gutes verhieß, stand außer Frage.
Noch immer ruhte Emilys Blick auf der Kuppel von St. Paul’s.
Was nur
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