Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
konnte passiert sein, dass die Rättin so dringend Rat halten musste?
Sie wurde das Gefühl nicht los, dass die Angelegenheit, in der Mylady uns alle zu sprechen wünschte, etwas mit dem Lichtlord zu tun haben würde. Es war lediglich ein Gefühl. Nichts weiter. Und vielleicht war es nur ein Zufall, dass sich Emily einbildete, das Licht in der Laterne auf der Kuppelspitze von St. Paul’s flackern zu sehen. Nur ein Zufall. Nichts weiter.
Kapitel 3
Neuigkeiten
London verschwand hinter einer Wand aus feinem Nieselregen, und die riesigen geriffelten Säulen, die den Eingang zum Britischen Museum und der Nationalbibliothek an der Nordfassade säumen, glänzten nass im trüben Licht des Nachmittags.
Emily und Aurora rannten eilig die Stufen zum Eingang mit seiner Drehtür hinauf, begrüßten den Mann am Info-Stand, der die beiden Mädchen aufgrund ihrer regelmäßigen Besuche im Museum kannte, und schritten geradeaus durch die große Halle auf die beiden Türen zu, die in den Lesesaal der Bibliothek hineinführten.
Nicht einmal ein Jahr war es her, als Emily hier in diesen Räumen ihre erste bewusste Vision gehabt hatte. Noch immer verband sie den staubtrockenen Geruch des Lesesaals mit jener unheimlichen Skulptur, die tief unter Chelsea versteckt eine Weggabelung markierte und die sie damals durch die Augen eines Wolfes gesehen hatte: Arachnidas Gabel.
Wie immer traten die Kinder in eine Atmosphäre der Stille ein, in der man gleichzeitig ein permanentes Ticken und Knacken und Zischen vernimmt, als laufe in den Köpfen der Lesenden und Denkenden ein Uhrwerk ab. Kaum ein Fünftel der vierhundert Pulte waren an diesem Nachmittag besetzt, und nur gelegentlich vernahm man an diesem Tag ein härteres, doch immer noch sehr fernes Geräusch, wenn einer der metallgebundenen Katalogbände gegen die Ledereinfassung der Regale stieß.
Die Kinder gingen geradeaus, die sorgsam in gesicherten Vitrinen ausgestellten Exemplare der Magna Charta und der LindisfarneBibel zu ihrer Rechten achtlos liegen lassend, hinüber in die King’s Library.
Inmitten der vielen gläsernen Schaukästen, die orientalisch illuminierte Handschriften und kostbare Einbände zeigen, erwartete Maurice Micklewhite die beiden Mädchen. Der hoch gewachsene Elf stand vor einer Vitrine, die eine erstaunlich gut erhaltene Erstausgabe von Miltons
Das verlorene Paradies
enthielt. Ich selbst betrachtete im Glaskasten nebenan eine Shakespeare-Folio-Ausgabe von 1623.
»Ah, die beiden Kinder«, begrüßte Maurice Micklewhite die beiden Neuankömmlinge mit lauter Stimme. Sein blondes Haar trug er jetzt länger, offen und schulterlang. »Miss Laing und Miss Fitzrovia.« Die Hände der beiden Mädchen schüttelnd grinste er, als habe er gute Nachrichten zu überbringen, was nicht der Fall war, wie er mir gegenüber bereits angedeutet hatte. »Wittgenstein ist auch schon da, wie Sie sehen.«
Höflich verbeugte ich mich vor den Kindern.
»Mylady erwartet uns.«
»In meinem Büro.«
Und wie es seine Art war, schritt er voran, ohne eine Reaktion der Kinder abzuwarten.
Es galt, keine Zeit zu verlieren.
Was auch immer zu tun sein würde, duldete keinerlei Aufschub.
Die Mädchen warfen einander Blicke zu, die erahnen ließen, dass die beiden vorher über uns gesprochen hatten.
»Hast du von Mara geträumt?«, hatte Aurora wissen wollen. Bereits während des Unterrichts in Miss Monflathers Schule war ihr aufgefallen, wie müde und gedankenverloren Emily wirkte.
Die Mädchen hatten die U-Bahn am Russell Square verlassen. Beide mochten das Gedränge dort nicht sonderlich und waren froh, auf der langen Rolltreppe zur Oberfläche hinaufzufahren, wo sie zwar ein kühles, herbstliches Wetter empfing, das jedoch allemal besser war als die beengenden Menschenmassen und die abgestandene Luft in der Untergrundbahn.
Emily hatte verloren gewirkt, als sie auf die Frage geantwortet hatte: »Nein, ich habe wieder am Fenster gesessen.«
»Die ganze Nacht über?«
»Bis zum Morgen.«
»Und gegrübelt.«
Emily hatte genickt.
»Du«, hatte sie angemerkt, »hast jedenfalls geschlafen wie ein Stein.«
Fast schuldbewusst hatte Aurora den Blick gesenkt. »Ich bin eben kein Nachtmensch.«
Nach kurzem Zögern hatte Emily angemerkt: »Ich doch auch nicht.«
Die Abgase der Autos wirbelten wie Gespenster über den Asphalt.
»Ich habe da ein ganz mieses Gefühl«, hatte Emily ihrer Freundin gestanden.
»Wegen der Ratte?«
Es war wirklich ein ungemütlicher Tag, selbst für das
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