Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
Vom Netzwerk:
war der Instinkt eines Waisenkindes, und sie fühlte, dass man etwas vor ihr verbarg.
    »Wittgenstein hütet seine Geheimnisse gut«, hatte Aurora ihr gesagt. »Nie verliert er viele Worte. Und Master Micklewhite ist da kaum anders. Manchmal erzählt er ohne Unterlass und gerät fast ins Plaudern, sodass ich schon denke, jetzt rückt er mit allem raus. Doch meistens ist kurz darauf schon wieder Schluss mit dem Gerede.«
    »Die beiden geben uns gerade so viel Informationen, damit wir bei Laune gehalten werden.«
    Die Quilps waren in dieser Angelegenheit auch keine Hilfe.
    Fragten die Mädchen während des Essens nach dem Senat oder der Regentin, hieß es: »Über solche Dinge spricht man nicht beim Essen.« Wollten sie etwas über die Häuser Manderley und Mushroom erfahren, dann beschwichtigte sie Mrs. Quilp mit einem lapidaren »Nicht jetzt!« oder »Das gehört nun wirklich nicht hierher!« oder dem allzeit beliebten »Dafür seid ihr beiden noch zu jung.« Wohingegen sich Mr. Quilp meistens aus der Affäre zog, indem er auf Mrs. Quilp verwies: »Meine Frau kann diese Dinge viel besser erklären!«
    Was blieb den Mädchen anderes übrig, als sich anderweitig umzusehen?
    Beispielsweise im Britischen Museum. Oder in der Schulbibliothek, zu der ihnen Miss Monflathers großzügig Zugang gewährte. Und, nicht zu vergessen, gab es da noch den alten Raritätenladen in Covent Garden, nahe der Charing Cross Road.
    Emily liebte diesen kleinen Laden mit seinen hohen Regalreihen, die voll gestopft waren mit Büchern aller Art und jeglichen Alters. Man benötigte eine Leiter, um all die Lexika, schweren Folianten, dünnen Gedichtbändchen und flachen Atlanten zu erreichen. Es gab fette Bibeln mit Gold- und Silberprägungen, uralte Werke, die gebunden waren in Pergament oder Kalbsleder. Allzeit roch es nach schwerem Papier und zerfranstem Gilb, nach brüchigem Leder und gebeiztem Holz. Klein war der Laden, dessen Inhaber Mr. Edward Dickens stets darauf achtete, dass niemand die Stapel von Büchern, die sich auf dem schmalen Tresen am Ende des Raumes türmten, umstieß, denn wenngleich man es beim ersten Hinsehen auch nicht vermutete, so gab es sehr wohl eine Ordnung, nach der die Bücher systematisiert, katalogisiert, angeordnet und dargeboten wurden.
    Zwei mit grünlichem Plüschpolster bezogene, uralte Stühle standen neben dem Tresen mit seiner riesenhaften Registrierkasse, die lautstark ratterte und klingelte, sobald ein verkauftes Exemplar über den Ladentisch ging. Oft saß Emily auf einem dieser Stühle und genoss die Ruhe, schwelgte in der staubigen und von schummrigem Licht durchdrungenen Atmosphäre, während sie all die Wörter in sich aufsog. Jedes Buch offenbarte ihr mehr von der Welt und, das war überhaupt das Wichtigste, von der Welt darunter.
    Denn Mr. Edward Dickens verkaufte keine gewöhnlichen Bücher.
    Man fand im Raritätenladen kaum Taschenbücher. Keine Bestseller, die die Kaufhäuser und Buchketten an der Charing Cross Road und überall sonst in der Stadt feilboten. An ihrer statt gab es Werke, in denen man von der uralten Metropole erfuhr. Die von Engeln und Wölfen und anderem Getier zu berichten wussten. Sagen, längst entschwunden aus dem Bewusstsein der Menschen.
    »Ich liebe die Ruhe dort«, hatte Emily einst ihrer Freundin gestanden.
    Aurora hingegen bevorzugte die Nationalbibliothek.
    Darin unterschieden sich die beiden Freundinnen.
    »Mir ist wohler, wenn möglichst viele Menschen um mich herum sind. Es tut einfach gut zu wissen, dass ich nicht allein bin.«
    Emily fand diese Einstellung von jeher trügerisch. War es nicht so, dass eine Ansammlung von Menschen nicht mit Gesellschaft gleichzusetzen war? Las man nicht immer wieder, dass es nirgends so viele einsame Menschen gab wie in London oder den anderen Großstädten der Welt?
    »Allein zu sein ist nicht schlecht«, pflegte Emily zu sagen, »wenn man in der Gesellschaft von Büchern ist.«
    Ihre Besuche im Raritätenladen genoss sie sichtlich. Das war etwas anderes als die hektischen Momente im Waisenhaus, wo sie zwischen Küchenarbeit und Putzdienst verzweifelt versucht hatte, in einem Buch zu lesen.
    Zudem mochte sie den Jungen, der dort arbeitete.
    Und der Junge mochte sie.
    »Nicht auf die romantische Art«, verteidigte Emily sich, wenn Aurora sie damit zu necken versuchte.
    »Sondern?«
    »Einfach so.«
    »So, so.«
    »Er ist nett.«
    »Er findet dich nett.«
    »Ja, ja.«
    Der Junge jedenfalls mochte Emily Laing aus

Weitere Kostenlose Bücher