Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
südlichem Ende Richtung Aldwych sich eine Mauer befindet, in die eine schmale Stahltür eingelassen ist.
»Diese Tür«, erklärte ich Emily, »war nicht immer dort.« Früher hatte sich dort ein Durchgang zu einem anderen, nunmehr stillgelegten Gleis befunden, der dann von einer eisernen Schiebetür versperrt worden war, die schließlich der heutigen massiven Stahltür gewichen war.
Ich zückte einen Schlüsselbund und machte mich an dem rostigen Zylinderschloss zu schaffen.
»Woher haben Sie den Schlüssel?«
»Fragen Sie erst gar nicht.«
Widerwillig knackte die Mechanik und gab dann den Weg frei.
Abgestandene Luft empfing uns.
Kaum jemand von den umherstehenden Passanten schenkte uns Beachtung.
Das ist London, dachte ich.
Emily registrierte all dies mittlerweile gelassener. Sie kannte die Gleichgültigkeit der Menschen. Indem sie sich unserer Meditationsstunden erinnerte, versuchte sie, die Gedanken an den Golem zu verdrängen.
Finster war es hinter der Stahltür.
Es roch nach abgestandener Luft, eingetrocknetem Urin und schwerem Motorenöl. Ein Lichtstreifen fiel in die Dunkelheit und ließ die Konturen von verstaubten Holzbänken und rotbraunen Steinen erkennen, die unter dem abgebröckelten, grünlichen Putz hervorlugten. Überall standen konturenhaft Gegenstände herum. Leitern und Schläuche und Kabeltrommeln der British Telekom. Eisenträger und Spaten und rostige Sicherungskästen. Ein Sammelsurium an zackigen Gerätschaften.
»Die Tunnelarbeiter benutzen diese Räume nach wie vor als Lager.«
Emily schwieg. Sah sich nur um.
Zu dunkel war es ihr hier unten und zu eng. Als die schwere Tür hinter uns ins Schloss fiel, befanden wir uns einen Augenblick lang in absoluter Dunkelheit. Meine Begleiterin begann sofort, unruhiger zu atmen. Emily mochte nach wie vor keine Dunkelheit. Zwar hatte sie gelernt, ihre Angst in die Schranken zu weisen, doch kostete sie es noch immer Mühe, die innere Ruhe zu finden.
»Machen Sie schon Licht!«
Die Taschenlampe ließ einen Lichtkegel durch den großen Raum wandern.
»Vielen Dank.« Das klang erleichtert.
»Mylady Hampstead hatte einen der neuen Abwasserkanäle genommen, die unter dem Wohnheim hindurchlaufen.«
»Welches Wohnheim?«
Mit jedem weiteren Schritt befiel Emily das Gefühl, sich fünfzig Jahre in der Zeit zurückzubewegen. Grüne und gelbfarbene Muster an den Wänden wechselten mit gelblich braunen Formen. Hier und da lehnten einige neue und unter der feinen Staubschicht noch rot schimmernde Feuerlöscher an den Wänden.
»Früher einmal gab es hier Unterkünfte für das Personal, das draußen auf den Gleisen und in den Büros arbeitete, von denen es, Sie werden sich wundern, nicht gerade wenig hier unten gab.«
»Wozu in aller Welt braucht man hier unten Büros?«
»Verwaltung, Fahrkartenverkauf und so weiter.«
»Hm.«
»Außerdem flohen viele Londoner während der Kriegszeiten in die Unterwelt, weil die Tunnel und Katakomben Schutz vor dem Bombenhagel im Blitzkrieg boten. Niemals wieder waren sich obere Welt und uralte Metropole so nah wie damals.«
Die Taschenlampe erhellte eine Ecke, in der halb volle Einkaufstüten vom Tesco-Supermarkt standen.
»Es sieht nicht sehr verlassen aus.«
»Tunnelstreicher benutzen das Wohnheim als Raststätte auf ihren langen, unterirdischen Wanderungen.«
Emily trat an die Tüten heran und wagte einen Blick hinein. Cheddar, helles Brot und Bierdosen fand sie dort. Heinecken. Einige Dosen waren bereits aufgebraucht und lagen, wie das Mädchen jetzt erkannte, hinter den Tüten, zusammengedrückt und achtlos weggeworfen. Dazwischen einige alte, schon vergilbte Ausgaben der
Sun
und der
Times
.
Noch immer verstand Emily nicht ganz, welche Rolle ihr zugedacht worden war in dieser Welt.
Natürlich wusste sie, dass mir ihre Ausbildung als Trickster oblag und dass man von ihr erwarten würde, diese besonderen Eigenschaften einzusetzen. Anzuwenden, dachte sie, klingt irgendwie besser. Nicht viel besser, aber nicht ganz so … verschwörerisch … und boshaft. Man würde bestimmte Dienste von ihr einfordern, wie man es einst von mir verlangt hatte. Doch wer würde das tun? Wer verbarg sich hinter dem »man«? Bisher hatte sie noch keine Antworten darauf erhalten, und außer einer düsteren Vorahnung, die sie immer dann beschlich, wenn jemand vom Senat der Metropole sprach, gab es keine tiefer gehende Erkenntnis. Emily war klug, und sie spürte, wenn Erwachsene es nicht vollends ehrlich mit ihr meinten. Das
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