Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Male waren wir hier unten gewesen seit den Vorkommnissen, die nunmehr ein Jahr der Vergangenheit angehörten. Hier unten hatte sich die oberirdische Stadt eine Nachbildung ihrer selbst erschaffen, versteckt in der erdigen Tiefe. Wie im London unter dem grauen Himmel gibt es breite Straßen und verschlungene Wege, die der Fußgänger schnell wiedererkennt; dazu Abkürzungen und Kreuzungen, tiefe Fahrstühle und lange Rolltreppen, Viertel mit bunten Lichtern und voller Betriebsamkeit sowie dunkle, verlassene Gegenden.
Die U-Bahn ist das Leben spendende System, das für Nahrung sorgt und die uralte Metropole atmen lässt. Dabei besitzen die einzelnen Linien fast so etwas wie einen Charakter. Die Central Line ist energisch und die Circle Line steckt voller Abenteuerlust, die Northern Line hingegen wirkt allzeit verzweifelt und ist kurz davor, sich selbst ins Verderben zu stürzen.
Die Luft dort unten ist anders.
»Es riecht muffig«, würde Emily mit gerümpfter Nase anmerken.
Alt. Das träfe es besser.
Es riecht alt dort unten, in den tieferen Schichten der Anonymität und Vergessenheit, wo man auch heute noch Fossilien findet und Restefresser und Diebe eine Zuflucht gefunden haben. Schmutzige, gekachelte Wände säumen die Tunnel und Gewölbe, harter Fels formt missgestaltete Gänge. Es ist ein Netzwerk aus brackigen Abwasserkanälen und triefenden Röhren und Korridoren voller Unrat, Gas- und Wasserleitungen. Abertausende Meilen Koaxialkabel, verlegt von mürrischen Postarbeitern, beherrschen die Stadt über der Stadt. British Telekom und Londoner Stadtwerke verfügen über eigene Tunnel und Gräben voller Telefonkabel, die es den Bewohnern der uralten Metropole erlauben, das Leben im London darüber zu beobachten und zu steuern.
Viele finden es bedrückend hier unten.
Ich nicht.
Emily schon.
Der Teil des Bahnhofs, in den wir zu gelangen gedachten, war seit langer Zeit stillgelegt.
»Die Stadt testet hier unten neue Video-Projektionsmethoden, um den Fahrgästen an den Tunnelwänden Werbespots zu zeigen«, erklärte ich. »Bahnsteig sechs ist seit 1917 außer Betrieb und dient in erster Linie als Lagerhalle für Werkzeuge und Aufenthaltsort für die Installationsteams, die sich manchmal hier unten herumtreiben, wenn einer der Fahrstühle hinauf zur Piccadilly Line defekt ist.«
Wachsamen Blickes folgte mir Emily die langen Rolltreppen hinunter und durch die runden Tunnel des Bahnhofs, die gespickt waren mit Plakaten, die neue Theaterstücke und Kinofilme und Gebrauchsgüter anpriesen, und so gelangten wir immer tiefer in die Eingeweide der Stadt.
Die Geschichte über die Bestie von Whitechapel hatte das Mädchen nicht wenig geängstigt.
Wie seltsam, dachte sie, wenn sie die arglos vorbeieilenden Passanten betrachtete, dass niemand von all diesen Menschen auch nur ahnt, welche Welt zu streifen er gerade im Begriff ist. Nur einige gekachelte Wände trennten sie von der uralten Metropole, die sich jenseits der U-Bahn erstreckte und wo Dinge geschahen, die Emily noch immer nicht ganz verstand.
»Einst gab es einen Rabbi«, hatte Maurice Micklewhite den Kindern berichtet, »der lebte in Prag. Dieser Rabbi war ein gläubiger Mann und suchte nach einem Weg, die Last des täglichen Lebens von den Schultern seiner Mitmenschen zu nehmen. Er durchforstete die alten Schriften und stieß schließlich auf eine Formel, die er als göttlich erkannte.« Der Wind ließ den Regen gegen die Fenster prasseln, und jenes Geräusch auf dem Glas vermischte sich nahezu unheimlich mit der Stimme des Elfen. »So kam es, dass Rabbi Löw zum Fluss hinunterging und aus dem Schlamm einen menschlichen Körper formte, gerade so, wie Gott es einst mit dem ersten Menschen getan hatte.« Süffisant hatte Maurice Micklewhite hier angemerkt: »Glaubt man den Genesis-Überlieferungen.« Um sogleich fortzufahren, während Mylady, müde und kränklich, immer größere Mühe hatte, die kleinen Knopfaugen offen zu halten. »Der Rabbi formte also eine menschliche Gestalt mit Armen, Beinen, einem Torso, einem Kopf. Er gab dem Kopf sogar ein angedeutetes Gesicht, und an der Stelle, wo sich der Mund hätte befinden müssen, drückte er einen Zettel in den Lehm hinein. Auf diesem Zettel, so sagt man, befand sich eine Abschrift der göttlichen Formel.«
»Am Anfang war das Wort«, hatte ich zitiert.
»Und dieses Wort hauchte dem kalten, feuchten Klumpen Lehm Leben ein. Er erhob sich und war seinem Schöpfer zu Diensten. In den kommenden Tagen half der
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