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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Rotherhithe.
    Natürlich besaß er auch einen Namen.
    »Neil Trent.«
    So hatte er sich Emily vorgestellt, als ich sie zum ersten Mal in den Raritätenladen geführt hatte.
    »Emily Laing«, hatte Emily geantwortet.
    Dann hatten die beiden dagestanden und einander auf die Schuhspitzen gestarrt, während ich bei Master Dickens eine Buchbestellung aufgab. Wir wechselten einige höfliche Worte, und als ich mich umdrehte, standen die beiden noch immer wie angewurzelt da.
    Ich hatte mich geräuspert. »Wir müssen los.«
    Beide sahen mich an.
    Emily mit diesem genervten Blick, den sie immer aufzusetzen pflegte, wenn ihr etwas nicht in den Kram passte. »Tja, wir müssen los«, sagte sie.
    Der Junge murmelte etwas.
    Emily sah ihn fragend an.
    »Little Neil«, wiederholte er sein Gestammel. »Freunde nennen mich Little Neil.« Die strahlend blauen Augen in dem bleichen Gesicht leuchteten erwartungsvoll, und als Emily lächelte, strich er sich verlegen eine Strähne seines strohblonden Haars aus dem Gesicht.
    »Bis bald, Little Neil«, verabschiedete sie sich.
    Die beiden beobachtend stand ich da und dachte mir meinen Teil.
    »Bis bald, Emily Laing«, verabschiedete der Junge sich seinerseits.
    Die Gefahr witternd, dass diese Verabschiedung sich in die Länge ziehen mochte, beschleunigte ich die Prozedur, indem ich meiner Begleiterin die Tür öffnete.
    »Wir werden Sie wieder beehren«, empfahl ich mich und schob Emily Laing aus Rotherhithe nahezu aus dem Laden. Draußen atmete sie durch und blickte zur Straße.
    Was war denn das eben?, fragte ich mich im Stillen.
    Vermutlich sprachen meine Blicke Bände, denn Emily sagte ungehalten: »Fragen Sie bloß nicht.«
    Nun denn.
    Ließ ich es also bleiben.
    Einige ungehaltene Blicke von der Seite einheimsend, ging ich an diesem Tag meines Weges. Peggotty, meine Haushälterin, wies mich später darauf hin, dass Mädchen in Emilys Alter es nicht unbedingt schätzen, wenn man sie auf derartige Gefühlsregungen anspricht oder diese auch nur andeutet – sei es nun scherzhaft oder auch nicht. Ich unterließ also zukünftig Bemerkungen, den Jungen im Raritätenladen betreffend, und wie sich herausstellen sollte, würde der Ärger letzten Endes ohnehin aus ganz anderer Richtung kommen.
    Doch ahnten wir von alledem noch nichts, als wir uns in Hidden Holborn befanden.
    Ein Herbergsvater in der traditionellen Kluft der Thameslink-Bruderschaft gewährte uns Einlass. Sein kahl geschorener, tätowierter Kopf glänzte im fahlen Licht der roten Neonröhren, die an der Decke entlangliefen.
    »Wir möchten uns, wenn es genehm ist, mit einigen Fragen an die Streicher wenden«, teilte ich ihm unser Anliegen mit.
    »In welcher Angelegenheit?«
    »Es geht um eine Ratte, die in Eurem Bezirk attackiert worden ist.«
    Der Herbergsvater nickte. »Mylady Hampstead?«
    »Ja.«
    »Ihr seid Wittgenstein?«
    »Ja.« Eigentlich war ich in dieser Gegend nicht bekannt.
    »Mylady hat Euren Namen genannt, als sie dem Fieberwahn anheimgefallen war.«
    Demnach verstanden die Tunnelstreicher die Rattensprache, dachte Emily.
    »Wer ist die da?« Der große Mann zeigte mit dem Finger auf das Mädchen.
    »Miss Laing, meine Schutzbefohlene.«
    »Ihr seid Alchemist?«
    »Ich schätze, die Kluft hat mich verraten.«
    Der Herbergsvater grinste.
    Entblößte eine Reihe gelbschwarzer Zähne. »Nur noch wenige Eurer Zunft treiben sich heutzutage hier unten herum, was? Habe schon seit Ewigkeiten keinen mehr gesehen, der sich in der alten Kunst versteht.« Er trat zur Seite und bat uns einzutreten.
    Drinnen fanden wir uns in einem Gang wieder, der das Attribut
eng
neu zu definieren schien. Man musste kein Hüne sein, damit die Schultern die weißen Wände streiften. Es blieb uns gar keine andere Wahl, als den Gang seitlich entlangzuschreiten, und wenn man dem riesigen Herbergsvater folgte, dann wunderte man sich darüber, dass er hier überhaupt hindurchpasste.
    Emily atmete ruhig.
    Rhythmisch, wie sie es gelernt hatte.
    Nach wenigen Metern erreichten wir eine Wendeltreppe, die hinauf zu den Zimmern führte.
    »Hier leben Menschen?«
    »Tunnelstreicher, die eine Bleibe für die Nacht suchen«, sagte ich ihr. »Früher jedoch kamen die Londoner hierher, um dem Bombenhagel der deutschen Flieger zu entgehen. Viele Menschen bauten sich damals ein Leben im Untergrund auf.«
    »Aber das«, schaltete sich der Herbergsvater ein, »ist lange her. Jetzt haben wir hier unsere Ruhe. Hätten wir es den Krautfressern nicht gezeigt, dann

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