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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Golem von Prag den Menschen im jüdischen Viertel. Er schleppte Wassereimer und zog Karren, er kehrte die Gassen und füllte die Kornspeicher. Ein jeder profitierte von dem Golem des Rabbi Löw.«
    »Aber damit endet die Geschichte nicht.«
    Aurora hatte es erfasst.
    Dies wäre auch ein viel zu gutes Ende gewesen.
    »Der Golem besaß aber nicht nur Leben, sondern auch ein Bewusstsein. Er sah, was um ihn herum geschah, wie die anderen Menschen beschaffen waren und dass ihn die anderen Menschen ob seiner großen Gestalt mieden, weil sie nur wenig Menschliches in ihm sahen. Der Rabbi hatte ihm zwar Gesichtszüge gegeben, doch waren diese zu grobschlächtig, um Zuneigung zu ernten. So fragte sich der Golem insgeheim, wie er es denn schaffen könne, geliebt zu werden. Und kam wohl zu dem Schluss, dass dies nur möglich sei, wenn er einem Menschen ähnlicher würde.«
    Beide Mädchen klebten an den Lippen des Elfen.
    Wie oft schon hatte ich diese Geschichte vernommen, und seltsamerweise erfüllte sie mich noch immer mit dem größten Unbehagen. Bereits damals, vor all den Jahren, als der Schrecken in der Stadt der Schornsteine allgegenwärtig gewesen war, hatten wir Kinder um die Ecken gelugt in der Angst, dort könne er stehen, der Golem vom Eastend.
    »Was ist geschehen?«, fragte Aurora.
    »Der Golem ist durch die Viertel gestreift und hat sich von den Menschen genommen, wonach es ihm verlangte. Von manchen nahm er die Haut, mit der er seine erdige Oberfläche zu bedecken versuchte, von anderen die Innereien, die er sich in den lehmigen Bauch stopfte, von manchen die Haare und von einem sogar das Gesicht. Jener, dessen Gesicht er sich nahm, war ein guter Freund des Rabbi Löw gewesen, und als er dem Golem gegenüberstand und dieser ihn mit den Augen des Freundes ansah, da erkannte der Rabbi seinen Fehler. In einem Kampf entriss er dem Golem den Zettel mit der göttlichen Formel, und augenblicklich wurde die Kreatur wieder zu dem, was sie einst gewesen war.«
    »Zu einem Klumpen Lehm.«
    »Sie sagen es.« Maurice seufzte. »Das ist die Geschichte vom Golem aus Prag, so wie sie uns berichtet wurde.«
    »Doch was hat das mit den Morden in Carfax zu tun?«
    Eine lange Geschichte war das.
    Und viel komplizierter, als es auf den ersten Blick erscheinen mochte.
    »Damals, im Jahre 1888, ereigneten sich blutige Morde im Eastend. Jack the Ripper ging um, und die Menschen verkrochen sich ängstlich in den Häusern. Niemand sollte je das Gesicht dieser Bestie sehen, und der Grund dafür ist wahrlich simpel. Jack the Ripper besaß keines.«
    »Er hatte kein Gesicht?« Es schauderte Aurora bei dieser Vorstellung.
    Emily schluckte. »Er war so etwas wie dieses Ding in Prag?«
    Maurice Micklewhite nickte. »Es war ein Golem, der in Whitechapel umging. Deshalb fand man auf den Körpern seiner Opfer auch Spuren nassen Lehms. Das war es, was die Öffentlichkeit ignorierte. London war eine schmutzige Stadt, und Dreck auf den Leibern der Toten war nichts Besonderes. Und doch waren es diese Lehmspuren, die schließlich zur Aufklärung des Falles beitrugen.«
    Der Zusammenhang war offensichtlich.
    »Sie glauben also, dass wieder ein Golem durch London streift?«
    Kluges Kind!
    »Ja«, bestätigte Maurice Micklewhite Emilys Vermutung. »Und es wird Ihrer Freundin und mir obliegen, dieser Sache auf den Grund zu gehen. Denn wenn es einen neuen Golem gibt, dann muss es auch jemanden geben, der ihn erschaffen hat. Und es muss einen Grund für die Erschaffung einer solchen Kreatur geben.« Auroras dunkle Augen erhellten sich. Einerseits ängstigte sie zwar die Vorstellung, der Spur einer derartigen Kreatur zu folgen, andererseits genoss sie das Gefühl, gebraucht zu werden. Maurice Micklewhite, ihr Mentor, traute ihr immerhin zu, sich in dieser Angelegenheit zu bewähren. Er glaubte an sie. Eine für ein Waisenkind nicht zu unterschätzende Bestätigung. »Wir werden Nachforschungen anstellen und hoffentlich ein wenig Licht in die Geschehnisse der letzten Tage bringen.«
    So waren wir verblieben.
    Jetzt folgten wir den anderen Passanten, emsigen Geschäftsleuten mit Brillen und Aktentaschen auf dem Nachhauseweg, die, sofern es ihnen am Bahnsteig geglückt war, einen Platz auf einer der orangefarbenen Plastikbänke zu ergattern, schwarz glänzende Notebooks auf dem Schoß hatten. Der Menschenstrom nahm uns in seine Arme, trug uns die lange Rolltreppe hinunter und den ganzen Weg durch den Verbindungstunnel hinüber zu Bahnsteig vier, an dessen

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