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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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erwachsener wirken ließ, als sie es war. »Elfisch?«
    Drückte ich mich unklar aus?
    »Ein Elf«, wiederholte ich. »Väterlicherseits.«
    Überraschenderweise begann sie zu kichern. »Sie haben Flügel?«
    Dieses Kind!
    »Seien Sie nicht albern!«
    »Entschuldigen Sie, aber ich dachte …«
    »Unsinn!«, unterbrach ich sie. Musste mir eingestehen, dass diese Art der Konversation zu nichts führte. »Setzen Sie sich wieder hin«, forderte ich sie etwas unwirsch auf, »und hören Sie mir zu.«
    Sie tat, wie ihr geheißen ward, und ich setzte sie von den Dingen in Kenntnis, die sie ungläubig verstummen ließen.
    »Sie sind ebenfalls zur Hälfte eine Angehörige jener Spezies, die in der alten Zeit als Elfenvolk bezeichnet wurde«, begann ich. Berichtete ihr von den heute in der Stadt lebenden Elfen, die sich allenfalls noch durch ihre mentalen Eigenschaften von den Menschen unterscheiden. »Sie haben natürlich
keine
Flügel«, erklärte ich. »Das ist ein weit verbreiteter Irrtum, den wir einigen irischen Geschichtsschreibern zu verdanken haben. Es gibt Wesen, die von winziger Statur sind und in den Wäldern und Wiesen leben und die von den Menschen landläufig als Blumenelfen bezeichnet werden. Doch haben diese sanftmütigen Wesen rein gar nichts mit der Gattung der Elfen gemein. Wenngleich von menschenähnlicher Statur, gehören sie eher der Familie der Insekten an.«
    »Und die Elfen«, hakte Emily nach, »leben hier in der Stadt?«
    »Einige von ihnen tun das«, sagte ich. »Sie gehen ihren täglichen Beschäftigungen nach. Immerhin müssen sie ihren Lebensunterhalt bestreiten, und das Geld wächst auch für Geschöpfe ihrer Art nicht auf den Bäumen der städtischen Parkanlagen oder den Straßenlaternen in Westminster. Elfen sind sehr wissbegierig. Es gibt eine Reihe bekannter Naturwissenschaftler aus ihren Reihen.«
    »Und Sie glauben wirklich, dass ich eine Halbelfe bin?«, fragte Emily.
    »Zweifelsohne«, antwortete ich. »Ihre Mutter ist eine Elfe. Man erkennt es an den Ohren.«
    »Was ist mit meinen Ohren?«
    »Sie sind elfisch«, sagte ich. »Nicht ganz so spitz, dass es normalen Menschen auffallen würde, aber typisch für einen Wechselbalg.« Vergaß ich zu erwähnen, dass die Elfen jene mit Eltern beider Gattungen als Wechselbälger bezeichnen?
    Tränen traten in das Auge des Mädchens. Für ein Waisenkind ist der Moment, in dem es etwas über seine leiblichen Eltern erfährt – und sei diese Information auch noch so dürftig –, voll erschreckender Magie. »Sind Sie sich sicher?«
    Ich schob mein langes Haar zurück und entblößte mein rechtes Ohr.
    »Das ist aber gar nicht spitz«, bemerkte Emily erstaunt.
    Dann deutete ich auf meine Augen, die schmal und dunkel waren und allzeit zusammengekniffen wirkten. »Ich habe meines Vaters Augen«, erklärte ich. »Ist die Mutter eines Wechselbalgs eine Elfe, dann vererben sich die Ohren. Ist die Mutter menschlich, vererben sich meist die geschlitzten Augen des Vaters.«
    Fasziniert berührte Emily ihre Ohren und ertastete die kleinen Spitzen.
    »Haben Sie …«
    »Meine Eltern gekannt?«, führte ich ihre Frage zu einem Ende und gab zugleich die Antwort darauf. »Nein, das habe ich nicht. Wenngleich mir, das muss ich einwenden, ein Waisenhaus wie jenes, aus dem Sie zu entkommen das Glück hatten, erspart geblieben ist.«
    Jetzt lächelte sie zaghaft. »Dann wissen Sie ja, wie ich mich fühle«, flüsterte sie.
    Ich nickte kurz. »Ja, das weiß ich sehr gut.«
    Die Stille, die eintrat, wirkte nicht unangenehm. Eher vertraut.
    Eine Weile saßen wir schweigend da und lauschten dem Knistern des Feuers im Kamin und dem Wind, der um das Haus heulte. Ich trank den Kräutertee und beobachtete das kleine Mädchen. Das lebendige Auge blickte traurig ins Leere, und selbst das Glasauge, in dem sich die Flamme der Kerze spiegelte, die auf dem Tisch zwischen uns stand, hatte einen warmen, sehnsüchtigen Glanz. Sie hatte noch nie vorher an einem Kaminfeuer gesessen und sich Geschichten erzählen lassen, noch nie hatte sie des Abends die Augen mit der Gewissheit geschlossen, dass sich jemand um sie sorgte und über sie wachte. Man vergisst diese Einsamkeit niemals. Zeitlebens haftet sie einem an. Waisenkinder können nur selten vertrauen. Man lernt, dass die Welt ein Tier ist, das immer kurz davor steht zuzuschnappen. Man lernt, dass die Menschen sich vor allem Andersartigen fürchten und ihm mit Verachtung und Ausgrenzung begegnen.
    Emily Laing wusste das.
    Das war es,

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