Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
was uns letzten Endes verband.
»Es ist nicht einfach, das alles zu glauben.«
»Dennoch«, antwortete ich, »ist es die Wahrheit.«
»Was werden Sie mir denn noch alles erzählen?«
Müde rieb ich mir die Augen und beobachtete mein Gegenüber. »Ich will ehrlich zu Ihnen sein«, sagte ich und deutete hinaus in die Abenddämmerung. Heftiger Schneefall hatte eingesetzt. »Es geschehen seltsame und beängstigende Dinge in der Stadt der Schornsteine. Kinder verschwinden vom Angesicht Londons. Es gibt Gerüchte über eine Krankheit, welche die Arachnidenkolonien in Chelsea befallen hat. Die Wölfe werden wagemutiger.« Für einen Moment hielt ich inne. »Die Welt dreht sich weiter, doch etwas ist … nun ja,
nicht richtig
. Um es kurz zu machen: Wir haben ein Rätsel zu lösen. Und wir benötigen Ihre Hilfe, Emily.«
»Warum gerade ich?«
Emily Laing stellte sich diese Frage wohl unzählige Male in der Nacht, die auf unser langes Gespräch folgte.
Neugierig war sie meinen Worten gefolgt und hatte sich durch die alte Welt führen lassen. Scheinbar mühelos lauschte sie meiner Stimme, die sich mit dem Heulen des Winterwindes vor dem Fenster vermischte und in schattenhaften Farben das andere London heraufbeschwor. Eine Stadt der Elfen und gefallener Engel, ein Moloch voller Irrwege und dunkler Pfade, die nur wenige Menschen je begangen hatten. Im Winter beherrscht ein ganz besonderer Zauber dieses London, haucht den gewöhnlichsten Dingen eine Magie ein, die Kinderaugen leuchten und hungrige Bettler an gedeckte Tafeln denken lässt. Im dichten Schneetreiben tauchen Gesichter und Geschichten aus längst vergessenen Tagen auf. Doch gibt es auch Wölfe und anderes Gesindel, das sich in den langen Schatten verbirgt und lauernd die nächtlichen Parks und unterirdischen Bahnhöfe durchstreift. London ist nicht leichtsinnig zu beschreiten. Das war es noch nie. Weder zu dieser Zeit noch zu einer anderen. Weder in dieser Wirklichkeit noch in einer der vielen anderen.
Emily erwies sich als gelehrig wie geduldig.
»So habe ich London nie zuvor betrachtet.«
»Das ist die wahre Stadt der Schornsteine.«
»So habe ich nie jemanden die Stadt nennen hören.«
»Wir nannten sie früher so.«
»Früher?«
»Als ich ein Junge war. Damals gab es viele Schornsteine in der Stadt, und alle bliesen sie ihren Rauch in den Himmel. Doch das ist lange her.«
»Wie lange?«
Dieses Kind!
»Fragen Sie nicht!«
Der Anweisung jedenfalls folgte Emily.
Und ließ mich als Dank für meine Geschichten an ihrer Wirklichkeit teilhaben.
Ausschweifend berichtete sie vom Waisenhaus in Rotherhithe, von den lebendigen Träumen, die sie in den einsamen, düsteren Nächten heimsuchten und ihr das Waisenhaus oftmals aus ganz neuen Blickwinkeln zeigten.
»Es ist, als wären es gar nicht meine Träume.«
»Vielleicht«, überlegte ich, »sind es die Träume fremder Menschen, die ihren Weg zu Ihnen finden.«
»So etwas ist möglich?«
»Alles ist möglich. Dies ist London.«
Von der Angst, die Reverend Dombey in die vielen Kinderherzen pflanzt, erzählte sie mir. Von Madame Snowhitepink und den verschwundenen Kindern. Nicht zuletzt von ihrer Freundin Aurora Fitzrovia, deren Gesellschaft sie schmerzlich misste. So kam es, dass Emilys junges Leben langsam vor meinen Augen Gestalt annahm.
Am Ende der langen Nacht blieb jedoch immer noch die Frage: »Warum gerade ich?«
»Weil die Dinge nun einmal so sind, wie sie sind«, gab ich zur Antwort.
Dann bat ich sie, zu Bett zu gehen.
Mit mürrischer Miene fügte sich Emily. Wenngleich sie auch mit wachsendem Interesse meinen Berichten gefolgt war, so hatte sie die aufkommende Müdigkeit, die nach einiger Zeit schier übermächtig zu werden drohte, kaum vor mir verbergen können.
»Kinder benötigen ihren Schlaf«, floskelte ich und reichte ihr ein Glas heißer Honigmilch. »Ein Schlaftrunk«, kommentierte ich das Getränk.
Sie lächelte, und zum ersten Mal seit unserem ersten Aufeinandertreffen war es schon fast ein vertrauensvolles Lächeln.
»Danke«, flüsterte sie.
»Schlafen Sie wohl. Und haben Sie Acht auf Ihre Träume.«
Sie schloss die Augen.
Ich löschte das Licht.
Emilys Frage hatte ich nicht beantwortet. Vielleicht, so dachte ich mir, träumt sie die Antwort von ganz allein. Zweifelsohne besaß sie großes Talent. Mit ein wenig Glück und meiner Hilfe würde sie es vielleicht herausfinden.
Der nächste Schritt ist immer der schwierigste. Er entscheidet die Richtung, die das Leben
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