Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
wirklich.«
Emily las überhaupt viele Bücher, in denen Waisenkinder vorkamen. Ihr half das, mit dem eigenen Schicksal klarzukommen. Aurora war kein Bücherwurm. Zumindest keiner, der sich durch Romane fraß. Sie mochte die dicken, fetten, staubbedeckten Sachbücher, deren sie in der Nationalbibliothek habhaft werden konnte. Wissen wollte sie, wie die Welt funktionierte. Emily wollte erfahren, wie die Menschen funktionierten, was ungleich schwieriger zu bewerkstelligen war.
Mrs. Quilp, die Romane bevorzugte, und melodramatische obendrein, hatte ihr jedenfalls nur sagen wollen, dass sich niemand seiner Tränen zu schämen brauchte. »Denn jedes ehrliche Gefühl ist es wert, dass man es zeigt.«
Aurora hatte gelächelt und sich die Tränen weggewischt.
Und als die Quilps das Zimmer der Mädchen verlassen hatten, war Emily zu ihr ins Bett gekrochen gekommen.
»Alles in Ordnung?«
»Ja.«
»Das glaube ich nicht.«
Emily war hartnäckig.
»Mein Vater war kein Briefträger aus Irland«, hatte Aurora geflüstert und neue Tränen gespürt. »Er wird mich auch niemals finden, weil er mich nämlich nicht sucht.« So einfach war das.
So einfach starb die Hoffnung.
Bloß aussprechen musste man es, und schon war es um einen geschehen.
Emily hatte sie in den Arm genommen, und so waren sie eingeschlafen.
Mit dem Herzschlag der Freundin ganz nah.
»Denn sie spülen wie Regen den Erdenstaub weg, der unsere verschlossenen Herzen bedeckt«, erinnerte sich Aurora des Zitats.
Emilys Herz, hatte Aurora in jenem Moment erkannt, als Mrs. Quilp die Worte ausgesprochen hatte, war mit Staub bedeckt und verschlossen. Sie öffnete es nur wenigen. Aurora schätzte sich glücklich, zu diesen wenigen Menschen zu gehören. Doch wie weit Emmy ihr Herz öffnete, konnte selbst Aurora nicht mit Bestimmtheit sagen.
Auch Mrs. Quilp hatte das erkannt.
Redlich gab sie sich Mühe, Emily eine Mutter zu sein. Eine Pflegemutter oder Stiefmutter oder Ersatzmutter oder wie immer man ihre Rolle umschreiben mochte. »Du bist jetzt meine Tochter. Irgendwie.«
»Ich weiß«, hatte Emily geantwortet.
Schüchtern gelächelt.
Kurz die Hand Mrs. Quilps berührt, zaghaft und unsicher.
Was Mrs. Quilp oftmals zu der Bemerkung verleitete: »Ach, Kinder, ihr seid ja so verschieden.«
Für Aurora wurde Mrs. Quilp immer mehr zu einer Mutter. Oder dem Ersatz für die Mutter, die sie nie gekannt hatte und auch niemals kennen lernen würde. Sie tat alles, was eine Mutter so tut. Und dafür liebte Aurora sie. Für die ständige Besorgnis und Fürsorge und vieles mehr.
Wie sehr sie Mrs. Quilp liebte und wie sehr Mrs. Quilp
sie
liebte, wurde ihr an jenem Abend bewusst, als sie sich so lange in der Stadt herumgetrieben hatte, ohne ihre Pflegeeltern zu informieren. Mrs. und Mr. Quilp waren förmlich gestorben vor Sorge.
Mit Sicherheit hätten sie die Nacht nicht überlebt, wären sie im Ungewissen geblieben bezüglich Emilys Verbleib. Doch wurde allen Familienangehörigen eine zermürbende Nacht voller Ungewissheiten erspart.
Denn etwa eine Stunde, nachdem Aurora zum Haus in Hampstead zurückgekehrt war, fuhr ein Wagen vor. Eine elegante deutsche Limousine mit Stern und stromlinienförmigem Körper. Aus der ein junger Mann ausstieg, so apart und wunderhübsch, wie die staunende Aurora niemals zuvor jemanden erblickt hatte. Der junge Mann, dessen dunkles, gegeltes Haar im fahlen Licht der Laternen schimmerte und zudem von Farbe und Glanz her zu seinem schwarzen Lederoutfit passte, öffnete seiner Mitfahrerin die Tür und geleitete Emily zum Haus.
Die Quilps waren überglücklich, dass jemand das Mädchen nach Hause brachte.
»Darf ich mich vorstellen«, sagte er mit honigsüßer Stimme, »Dorian Steerforth.«
Emily schaute schuldbewusst von einem Quilp zum nächsten.
»Ich bringe Ihnen ein verlorenes Kind zurück.«
Steerforth lächelte.
Und alle lächelten zurück.
Kapitel 9
Dorian Steerforth
Am Abend des folgenden Tages fanden wir uns alle im Britischen Museum ein, in der ägyptischen Abteilung im Erdgeschoss, am Fuße der großen Anubis-Skulptur, die Howard Carter gemeinsam mit Maurice Micklewhite dem ewig treibenden Sand im Tal der Könige entrissen hatte. Damals, vor ach so langer Zeit. Die Whitechapel-Aufstände waren vorüber gewesen, und der Elf hatte es, wie viele von uns, vorgezogen, die Jahre nach dem Blutvergießen woanders zu verbringen. Hatten wir nicht alle London für einige Zeit den Rücken gekehrt? Das Vergessen war so leicht, wenn man
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