Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
Vom Netzwerk:
gewöhnliche Schule. Es war eine Einrichtung für Kinder, denen die uralte Metropole nicht unbekannt war, und Miss Monflathers, die Direktorin, hatte einst bei den Black Friars gelebt. Kein Mensch hatte den Mädchen bisher sagen können, wie alt ihre Lehrerin war.
    Verwirrt und verängstigt rannte Aurora Fitzrovia an diesem winterlichen Spätnachmittag durch London und versuchte verzweifelt, ein normales Kind zu sein. Sie probierte zahllose Kleidungsstücke an, was die mürrischen, sie permanent misstrauisch beäugenden Verkäuferinnen bei Marks & Spencer gar nicht gerne sahen. Die Stadt mit all ihren Verlockungen war ihre Welt, und wenn auch nur für wenige Stunden. Jede Leuchtreklame genoss sie, als wäre sie morgen nicht mehr da. Jedes Geschäft empfand sie als einladend, weil Menschen darinnen waren und sich so verhielten, wie es Menschen nun einmal tun, wenn sie shoppen gehen. Hier gab es keine Tunnelstreicher und Rabenmenschen und Spinnenkreaturen. Hier war alles normal.
    Sie
war normal.
    Ein gewöhnliches Mädchen.
    Das den Bus hinauf nach Hampstead nahm, als es müde wurde.
    Nach Hause.
    Wo sie jetzt stand.
    Vor der Tür, die sie von den besorgten Pflegeeltern trennte.
    Als sie eintrat, wurde sie, wie erwartet, mit Fragen bombardiert, die abwechselnd von Mrs. und Mr. Quilp gestellt wurden.
    »Wo hast du nur so lange gesteckt?«
    »Am Piccadilly? Und das ganz alleine?«
    »Du bist ja ganz kalt.«
    »Das kommt davon, wenn man sich bei dem Wetter herumtreibt.«
    »Wo hast du denn Emily gelassen?«
    »Wie … was soll das heißen, du hast keine Ahnung, wo sie steckt?«
    »In der Metropole? Mit diesem Wittgenstein?«
    »Auch das noch!«
    »Seit heute Morgen?«
    »Und sie hat sich nicht wieder gemeldet?«
    »Was heißt hier, seit heute Morgen? Seid ihr beiden nicht in der Schule gewesen?«
    »Wie? Wittgenstein und Micklewhite haben euch entschuldigt? Dürfen die das überhaupt?«
    »Ja, wir wissen, dass sie Miss Monflathers kennen.«
    »Wo mag das arme Kind nur stecken?«
    »Nein, Aurora. Ich glaube nicht, dass Wittgenstein gut auf Emily aufpasst.«
    »Er ist seltsam.«
    »Mysteriös.«
    »Unfreundlich.«
    »Mit Sicherheit kein Kinderfreund.«
    »Es ist einfach ungeheuerlich!«
    »Unverantwortlich!«
    »Ihr beiden seid noch Kinder.«
    »Wie konnten sie nur?!«
    Trotz all der Fragen hatte Mrs. Quilp Aurora sofort in die Arme geschlossen. Noch bevor sie die Jacke ausgezogen hatte. Noch bevor sie richtig hatte erzählen können, was ihr widerfahren war. Dies alles hatte Zeit, denn Mrs. Quilp freute sich von Herzen darüber, dass das Mädchen wieder da war. Niemals zuvor hatte ein Erwachsener ihr dieses Gefühl gegeben, und deswegen ließ sich Aurora gerne schier erdrücken von der Umarmung. Überhaupt umarmte Mrs. Quilp gern. Emily, Aurora, und natürlich Mr. Quilp, wenn er von der Arbeit kam und wenn er zur Arbeit fuhr und an den Wochenenden sowieso. Sie tat es leichten Herzens und fast beiläufig und zu vielen Gelegenheiten.
    Im Gegensatz zu Emily, die sich gegen diese körperliche Nähe sträubte, gab sie Aurora das Gefühl, angenommen zu werden. Vielleicht brauchte Emily dieses Gefühl nicht so sehr. Immerhin wusste sie, wer ihre richtige Familie war. Wenngleich die Manderley-Sippschaft nichts mit ihrer Freundin zu tun haben wollte, so wusste sie dennoch, wo ihre Wurzeln waren. Diese Gewissheit fehlte Aurora. Kam noch die Hautfarbe hinzu, die sie zusätzlich ausgrenzte. Selbst im Waisenhaus hatten die anderen Kinder ihre dunkle Haut zum Anlass für gemeine Scherze genommen.
    »Du bist etwas Besonderes«, hatte Mrs. Quilp ihr einmal gesagt. Kurz vor dem Einschlafen war das gewesen. »Und du, Emily, bist es auch.«
    Emily hatte sich höflich bedankt.
    Dankbar für alles, was die Quilps für sie getan hatten.
    Doch Aurora hatte weinen müssen.
    »Mist«, hatte sie geflucht. »Das tut mir Leid.«
    Mr. Quilp hatte geantwortet: »Wir sollten uns unserer Tränen weiß Gott niemals schämen, denn sie spülen wie Regen den Erdenstaub weg, der unsere verschlossenen Herzen bedeckt.«
    Und Mrs. Quilp hatte erklärt: »Das ist von Charles Dickens. Aus
Große Erwartungen

    Emily, das wusste Aurora, hatte dieses Buch mehrmals gelesen. Eine alte, zerfledderte Taschenbuchausgabe, die sie immer in der Küche des Waisenhauses mit sich herumgeschleppt hatte.
    »Das Buch handelt von einem Jungen, der sich in eine arrogante Ziege verliebt.«
    »Geht es gut aus?«, hatte Aurora von ihrer Freundin wissen wollen.
    »Nicht

Weitere Kostenlose Bücher